„Nur damit du weißt, wo ich herkomm’“ – Die deutsche Großsiedlung in der Rap-Erzählung

von Pia Kleine, Berlin

Mit den Worten „Ich bin geborener Karl-Marx-Städter [...]. Ich komme aus der Platte“, leitet der Rap-Künstler Trettmann 2018 einen seiner vermutlich bekanntesten Songs „Grauer Beton“ während eines Live-Auftritts auf dem Splash! Festival im sachsen-anhaltischen Gräfenhainichen ein. Er ergänzt, dass er den Song für all die spiele, die auch aus der Platte [1] kommen und für alle, die sie „respektieren“ [2]. Mit diesen Aussagen verweist Trettmann mindestens auf zwei für ihn bedeutende Identifikationsmomente: Auf seine DDR-Vergangenheit, und auf ein Aufwachsen in der Platte nach dem Ende der DDR. Mit dem Song „Grauer Beton“ teilt er mit den Zuhörenden und Zuschauenden seine persönlichen Perspektive und seine jugendlichen Erfahrungen aus der Nachwendezeit in Chemnitz. Trettmann erinnert sich mit „Grauer Beton“ zurück; der Song und das dazugehörige Musikvideo führen audiovisuell aus, wie sich Kindheit und Jugend des Rappers in einer ostdeutschen Großsiedlung gestalteten.
In diesem Beitrag geht es darum, wie Trettmann das Aufwachsen im Erfahrungsraum „Großsiedlung“ musikalisch und audiovisuell inszeniert und wie ein Rap- und Pop-interessiertes Publikum damit angesprochen wird. Zugleich geht es um die Frage, wie sich Trettmann mit „Grauer Beton“ in einer spezifischen Rap-Tradition verortet, in der das Aufwachsen im „Ghetto“ (im weitesten Sinne) als ein wichtiger Marker fungiert. Zuletzt wird ausgehend von der (inszenierten) Großsiedlungserzählung in Ost und West (am Beispiel von Sido) vergleichend untersucht, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede sich in Rap-Musikvideos ergeben. Zu betonen ist dabei, dass es sich zu einem Großteil um männliche Erzählungen über das vergangene Leben in Großsiedlungen handelt.

 

 

Trettmann und der HipHop – biographische Hintergründe

Trettmann (mit bürgerlichem Namen Stefan Richter) wurde 1973 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren und wuchs in der Fritz-Heckert-Siedlung auf, einer der größten Plattenbausiedlungen der DDR. Seine Leidenschaft für die HipHop-Kultur wurde nach eigenen Angaben mit dem amerikanischen Film „Beat Street“ (1984) entfacht. „Beat Street“ thematisiert jugendliche Banden in der New Yorker Bronx der 1980er Jahre, die rappten, Graffiti „sprayten“, Breakdance tanzten und als DJs Musik auflegten. Das jugendliche Rebellieren wurde durchaus auch als eine Kritik am westlichen Kapitalismus aufgefasst, weshalb der Film in den DDR-Kinos gezeigt werden konnte. Im Anschluss an den Film bildete sich auch in der DDR eine skeptisch beäugte, aber geduldete HipHop-Jugendkultur heraus, zu der Trettmann sich bald zugehörig fühlte [3].
Nach dem Ende der DDR ergab sich in den 1990er Jahren ein gespaltenes Bild, wie der Rapper in „Grauer Beton“ ausführt: Freizeit und konkret die HipHop-Kultur konnten zwar freier ausgelebt werden, gleichzeitig veränderte sich jedoch das alltägliche Leben in seiner Großsiedlung fundamental, und es ergaben sich neue Schwierigkeiten für die Heranwachsenden. Im Zusammenspiel aus visueller Inszenierung und Rap-Performance veranschaulicht Trettmann diese Erfahrungen, die er persönlich in Chemnitz der 1990er Jahre machte, in „Grauer Beton“.

 

 

Zum Kontext: Wechselhafte Geschichte(n) der deutschen Großsiedlungen

Die Großsiedlung Fritz Heckert ist Trettmanns persönlicher Erfahrungsraum, aus dem er nun seine Erinnerungen bezieht. Räume und die dazugehörigen räumlichen Bedingungen (die Materialität der Gebäude, ihre Höhe und die Anordnung, die Umfeldgestaltung oder die infrastrukturellen Gegebenheiten) beeinflussen ihre Bewohner*innen. Zudem sind Fremdzuschreibungen ein elementarer Bestandteil der Großsiedlungsgeschichte: Negative Beurteilungen stellten sich zuerst in den 1960er und 1970er Jahren in der ‚alten’ Bundesrepublik ein. Journalist*innen, Politiker*innen oder Stadtplaner*innen fällten ein (oftmals vernichtendes) Urteil: Die Siedlungen wurden als Ghettos oder Slums abgestempelt [4]. Der ursprüngliche Glanz, der den Großsiedlungen als „Städte der Zukunft“ angehaftet hatte, verlor sich schnell, und die dort wohnenden Bewohner*innen wurden als eine homogene problematische Bevölkerungsgruppe beschrieben. In den 1980er Jahren, nachdem in den USA und in anderen westeuropäischen Staaten bereits Abrisse vollzogen worden waren, begannen Stadtplaner*innen und Politiker*innen aufgrund massiver Leerstände und Fluktuationen auch in der Bundesrepublik über Sanierung und Abriss der Siedlungen zu diskutieren [5].
In der DDR verband die SED-Führung mit dem Wohnen im Neubau die Ideale des sozialistischen Wohnkomplexes und des gemeinschaftlichen Wohnens. Mit dem Wohnungsbauprogramm von 1973 war beschlossen worden, die Wohnungsnot bis 1990 zu beenden. Deshalb wurde bis zum Ende der DDR in serieller Bauweise gebaut. Viele dieser Großsiedlungen wurden erst in den 1980er Jahren eröffnet oder waren noch nicht fertiggestellt. Dennoch: Zahlreiche Menschen – oftmals junge Familien – zogen im Laufe der Jahre in die Großsiedlungen von Rostock, Jena, Gera, Leipzig, Hoyerswerda oder eben Chemnitz und lebten vor Ort ihren Alltag.

Die Fritz-Heckert-Siedlung in den 1980er Jahren, CC-BY-SA 3.0 [6]
Die Fritz-Heckert-Siedlung in den 1980er Jahren, CC-BY-SA 3.0 [6]

Nach dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989/1990 fand ein gravierender Bedeutungswandel in diesen DDR-Siedlungen statt: Von außen wurden nun jene negativen Stereotypisierungen an die Siedlungen herangetragen, die sich in der ‚alten’ Bundesrepublik herausgebildet hatten. So bezeichnete beispielsweise eine Spiegel-TV-Dokumentation den Stadtteil Marzahn als die Bronx von Berlin [7]. Gleichzeitig zogen viele Menschen aus den Siedlungen weg und Leerstände stellten sich ein. Während Anfang der 1990er Jahre noch versucht wurde, mit massiven Sanierungen diesem Prozess entgegen zu wirken, wurden ab Ende der 1990er Jahre erste Wohnkomplexe abgerissen. Für die Bewohner*innen bedeutete das, dass der lange als persönlicher Rückzugsort wahrgenommene Raum (die eigene Neubauwohnung und die Umgebung) nun von Unsicherheiten und negativen Bedeutungszuschreibungen betroffen war.
Im Rap-Genre werden diese vorgefundenen Missstände und kursierenden Stereotype der Großsiedlungen verschiedenfach aufgegriffen. Sie können sich in Frustrationen und klagenden Worten, aber auch durch Stolz, einen solchen Erfahrungsraum zu haben, und als Legitimationsmittel im Rap äußern.

Das Märkische Viertel (2012) von oben gesehen, Foto: Jörg Blobelt, CC BY-SA 4.0 [8]
Das Märkische Viertel (2012) von oben gesehen, Foto: Jörg Blobelt, CC BY-SA 4.0 [8]

Im Fokus: „Grauer Beton“

2017 erschien „Grauer Beton“ als Teil des Albums „DIY“ von Trettmann; auf YouTube ist das Musikvideo über 13 Millionen Mal aufgerufen worden (Stand: Juni 2022). Maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung von „Grauer Beton“ nahm das Produzent*innen-Kollektiv „KitschKrieg“, das durch den Erfolg des Trettmann-Albums in der Rap-Szene mehr Bekanntheit erfuhr.
Der Songtitel selbst spielt auf die architektonische und materielle Beschaffenheit der Platte an. Beton impliziert hier eine massive, raumeinnehmende Architektur. Die Farbe „grau“ unterstreicht die Beschaffenheit des Betons und gibt eine erste Wertung ab. Grau ist mit Tristesse konnotiert.
Textlich eröffnet Trettmann den audiovisuellen Rückblick mit der Zeile „Folg’ dem Wendekind dorthin, wo ma’ noch Hände ringt“. Mit der Selbstbetitelung als Wendekind erfolgte die unmittelbare Information, dass er in der DDR aufgewachsen ist und seine Jugend in den 1990ern im wiedervereinigten Deutschland verbracht hat. Nach dem Aufruf, ihm, dem Wendekind, zu folgen, schließt sich eine Bestandsaufnahme dieser Zeit an. Der Rapper entfaltet mit seinen Worten eine Stimmung, die von Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit bestimmt ist: „Dir niemand sagt, dass es ’n gutes Ende nimmt/In meinem Hauseingang kaum Gutes los“.
Durch diese Aussichtslosigkeit, die die räumliche Umgebung und das soziale Umfeld suggerieren, veränderte sich auch sein persönliches Umfeld. Trettmanns Eindruck ist pessimistisch: Seine Freunde seien „stumpf“, „skrupellos“ und „ruhelos“ geworden. Der anschließende Refrain vertieft die aussichtslose Stimmung und benennt Herausforderungen, denen die Jugendlichen damals ausgesetzt waren. „Seelenfänger“ und der „Abgrund“ hinter verschlossenen Haustüren in der Großsiedlung führten dazu, dass diese prägende Phase des Heranwachsens für Trettmann und seine Freunde nicht unbeschwert und sorgenfrei verlief. Stattdessen erlebten sie allgegenwärtig, wie ihrem Umfeld immer neue Probleme zugemutet wurden.
Die metaphorischen Schilderungen, die „Grauer Beton“ bereithält, werden nicht durchgehend von Trettmann ausgedeutet, sondern lassen Raum für Annahmen, was ihm als Jugendlichem und seinen Miterlebenden widerfuhr. Die dargestellten Momente erzählen eine Rap-charakteristische Jugend, die von verschiedenen Merkmalen geprägt war: Bei Trettmann sind es das Aufwachsen in einer räumlich benachteiligten und in den 1990er Jahren stigmatisierten Gegend und die damit verbundenen gesellschaftlichen und ökonomischen Schwierigkeiten, die die Familien, aber auch das nachbarschaftliche Umfeld vor Herausforderungen stellte. Es ist zudem die Flucht in eine Jugendkultur (bereits in der DDR), amerikanische Vorbilder und Sehnsüchte und der Halt einer Jugendgruppe, die den Widrigkeiten der Zeit gemeinsam entgegenstand [9]. Durch Einblendungen von persönlichen Fotografien aus der Zeit gibt „Grauer Beton“ Einblicke in Trettmanns Jugendwelt: HipHop-Tanzen vor dem Chemnitzer Karl-Marx-Kopf und Zeit verbringen mit den vertrauten Freunden. Die Kleidung spiegelt amerikanische Identifikationssymbole wider.
Mit der anschließenden Zeile „Nur damit du weißt, wo ich herkomm’“ spricht Trettmann die Zuschauer*innen direkt an und unterstreicht die Bedeutung seiner Herkunft sowie seiner Erfahrungen für seinen weiteren Werdegang und seine jetzige Person – ein typisches Merkmal von Rap-Erzählungen. Am Ende betont er mit der abschließenden Zeile „Auf und davon, nicht noch eine Saison“, dass er diese aussichtslose Situation hinter sich ließ. Auch dies ist typisch: Von seinem jetzigen Standpunkt aus, nimmt Trettmann Bezug auf seine Vergangenheit und benennt anschlussfähige Eckpunkte für eine typische Rap-Biographie [10], die unter anderem einen als prekär wahrgenommenen Raum und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Rapper thematisiert. Inwieweit seine Erfahrungen in der Chemnitzer Fritz-Heckert-Siedlung in dieser Erzählung aufgehen und vergleichbar sind mit jenen, die Rapper in westdeutschen Siedlungen machten, wird weiter unten untersucht.

Bild aus dem Video zu „Grauer Beton“ [11]
Bild aus dem Video zu „Grauer Beton“ [11]

Die Platte bei Trettmann als „Erinnerungsort“

In einem Interview [12] von 2017 beschreibt Trettmann, dass er noch immer ein schwieriges, zwiegespaltenes Verhältnis zu Chemnitz und der Fritz-Heckert-Siedlung habe. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in den Bildern des Musikvideos, in dem aktuelle Aufnahmen der Siedlung den Zuschauer*innen vorgeführt werden. KitschKrieg und Trettmann erzeugen hier ihr persönliches Bild von der Platte in der Gegenwart, die Trostlosigkeit und Stillstand ausstrahlt. Mittels ausgewählter Einblicke rücken sie einerseits die monumentale Architektur des Wohnkomplexes in den Fokus. Andererseits entwerfen sie Gegenbilder, indem sie in Nuancen festhalten, wie verwahrlost und kaputt die Siedlung ist: Die Pflanzen wuchern wild. Es sind Risse und Brüche im Beton und an Fassaden; Rost an einem Geländer zeugt von wenig Bestandspflege, und die Wege führen ins Nichts. Die Siedlung wird von den Filmenden menschenleer dargestellt, und doch beweisen wenige Momente, dass Menschen dort wohnen: Wäsche hängt auf der Leine, und aufgrund des guten Wetters sind die Markisen ausgefahren. Das Video transportiert diffuse Stimmungen zwischen Niedergeschlagenheit und Melancholie, die sich mit Trettmanns Text zusammenfügen. In dieser visuellen Darstellung liegt aber auch der künstlerische Anspruch der KitschKrieg-Produzent*innen, den die Fotografin °awhodat° auf diese Weise beschreibt, wenn sie davon spricht, dass sie gerade im Imperfekten das Ästhetische sehe [13].
Trettmann selbst wird das erste Mal im Video in einer Neubauwohnung mit ‚retro‘-anmutenden Mobiliar dargestellt. Er und die Produzent*innen setzen hier Requisiten ein, die als visueller Beleg für eine „Reise in die Vergangenheit“ dienen. Analogien finden sich in den Fotografien der ehemaligen Ostkreuz-Fotografin Sibylle Bergemann, die in den 1970er Jahren in einer Fotoreihe die individuelle Einrichtung der Menschen in DDR-Neubauwohnungen festhielt [14].
Auf dieser Zeitreise nimmt Trettmann, der eine Cap und eine Sonnenbrille als Markenzeichen trägt, eine Rap-typische Körperhaltung ein: Seine Gesten verleihen seinen Aussagen noch einmal mehr Gewicht und adressieren die Zuschauer*innen direkt. In einer anderen szenischen Einstellung steht neben dem rauchenden Trettmann ein hechelnder Hund, ein Boxer, eine als aggressiv geltende Hunderasse.

Rückseite des Albums „DIY“ von Trettmann (2017)
Rückseite des Albums „DIY“ von Trettmann (2017)

Der visuelle Verlauf des Videos endet mit einem rappenden und gestikulierenden Trettmann, der in einem leerstehenden, vermutlich abrissfertigen Wohnkomplex mit fehlenden Fensterscheiben steht. Diese Bilder führen die Unsicherheiten jener Zeit vor: Die gesellschaftliche Abwertung der DDR-Neubauten in den 1990er Jahren hat sich in der räumlichen Beschaffenheit der Großsiedlung niedergeschlagen: Die Wohnungen, die sonst Rückzug und Sicherheit versprachen, sind nun selbst bedroht.
Trettmann, der als Erwachsener an den Ort seines Aufwachsens zurückkehrt, erzählt von dort aus seine persönliche Wendekind-Geschichte. Die Plattenbausiedlung Fritz Heckert ist neben Trettmann die zentrale Protagonistin: Ihre Geschichte – vom Vorzeige-Bauprojekt in der DDR zum stigmatisierten Problemfall der 1990er Jahre – ist im Musikvideo mit der „Wende“-Vergangenheit Trettmanns unmittelbar verflochten. Sein „Erinnerungsort“ [15] erscheint uneindeutig. Mit ihm verbunden sind zwar die positiven Erinnerungen an das Ausleben der Jugendkultur HipHop. Gleichzeitig tragen die Bilder aber auch all die Unsicherheiten, die seither Trettmanns Erinnerungen an den Raum Fritz-Heckert-Siedlung bestimmen. In der persönlichen Erinnerung strahlt die Siedlung keine Verlässlichkeit, sondern Brüchigkeit aus. Dieser Eindruck des persönlich belasteten Erinnerungsortes verstärkt sich in einem Interview, in dem Trettmann berichtet, dass der Wohnblock, in dem er mit seiner Familie lebte, heute nicht mehr steht [16].
Die visuelle Inszenierung und die textlichen Schilderungen geben der Siedlung ihren düsteren Anstrich, durchbrochen wird diese Darstellung lediglich durch die (zeitgenössischen) Fotoaufnahmen seiner Freundesgruppe. Für das Genre Rap sind diese Gegebenheiten ein bedeutendes Kriterium – wie anschlussfähig oder unterschiedlich die Umstände aber interpretiert werden können, zeigt sich im Vergleich mit einem westdeutschen Großsiedlungsbeispiel.

 

 

Die Großsiedlung bei Sido als „Ghetto“

 

Cover der Single-Auskopplung „Mein Block“ von Sido (2004)
Cover der Single-Auskopplung „Mein Block“ von Sido (2004)

Beim wahrscheinlich prominentesten Beispiel des Berliner Rappers Sido (mit bürgerlichem Namen Paul Würdig) fällt die Bewertung des Lebens in einer Großsiedlung anders aus. 2004 wurde das Musikvideo „Mein Block“, mit dem der Rapper und sein Label „Aggro Berlin“ große Erfolge feierten, veröffentlicht. Auch Sido wurde in der DDR geboren, thematisierte dies aber erst 2009 [17]. Der Ausreiseantrag seiner Mutter wurde in den späten 1980er Jahren genehmigt, und nach mehreren Umzügen zog die Familie ins Märkische Viertel in Berlin Reinickendorf. Sido wurde in den 2000er Jahren einer der erfolgreichsten deutschen Rapper mit hohem Wiedererkennungswert – ein Grund dafür war die Totenkopfmaske, hinter der er lange seine Identität versteckte. Sido und seine Musik werden als maßgeblich mitverantwortlich für die Etablierung des Genres „Gangsta Rap“ in Deutschland beschrieben.

In „Mein Block“ skizziert der damals 24-Jährige das von ihm (alltäglich) wahrgenommene Leben in der Großsiedlung Märkisches Viertel im Norden Berlins. Es ist eine zeitgenössische Momentaufnahme. Das Märkische Viertel, das in Westberlin ab den 1960er Jahren gebaut wurde, ist eine der größten und medial bekanntesten Großsiedlungen in Deutschland. Hier dominierten viele Jahre die typischen Stereotypisierungen der Siedlung und damit einhergehend die Konstruktion einer prekären Bewohner*innenschaft mit problematischen Verhaltensweisen [18]. Stimmen der Bewohner*innen selbst gingen in diesem Diskurs häufig unter. Die stereotypen Urteilsbildungen ließen selten eine vielfältigere Darstellung zu. Auch deshalb erregte Sidos „Mein Block“ viel Aufmerksamkeit über die Rap-Grenzen hinaus.
Denn das Musikvideo präsentiert eben jene Großsiedlungsbewohner*innen selbst – Sidos persönliche Nachbar*innen. Auch er benennt die Großsiedlungsprobleme, die gesellschaftlich diskutiert wurden: „Genauso wie der Junkie ausm Vierten, der zum Frühstück erstmal zehn Bier trinkt, dann geht er hoch in den Siebten zum Ticker...“. Und auch er wiederholt eine Klassen-Erzählung [19], in dem er vom prekären benachteiligten Zustand in der Großsiedlung berichtet. Doch sein Song und das Musikvideo sind eben keine Verurteilungen dieses Lebens. Vielmehr glorifiziert er im Gestus des „Gangsta-Raps“ das Leben im „MV“: „Mein schöner weißer Plattenbau wird langsam grau. Draufgeschissen! Ich werd‘ auch alt und grau im MV“. Und er stellt diesem Bild zudem den bürgerlichen Traum entgegen: „Deine Villa […] dein Geld, dein Leben, kein Bock“. Das Märkische Viertel sei seine Heimat, er fühle sich zugehörig zu den Menschen vor Ort.
Laut der Soziologen Gerrit Fröhlich und Daniel Röder rückt das deutsche Genre „Gangsta-Rap“ das persönliche Leben in den Mittelpunkt. Mit der eigenen Geschichte suchten häufig marginalisierte Gruppen nach Anerkennung. Gerade das Leben mit und unter widrigen Umständen baue „Street Credibility“ auf und verhelfe zu Anerkennung im Genre [20]. Das Aufwachsen und Leben in der eigenen Großsiedlung, das meist im Vergleich zum Leben in anderen Räumen (wie das Villenviertel, das Eigenheim oder eine andere Großsiedlung) als besonders herausfordernd dargestellt wird, wird häufig als ein Wegbereiter für eine erfolgreiche Karriere im Rap benannt. Diese Inszenierung wird verstärkt durch ein als typisch männlich gelesenes HipHop-Auftreten, das sich beispielsweise in der Gestik äußert.

Bild aus dem Video „Mein Block“ von Sido [21]
Bild aus dem Video „Mein Block“ von Sido [21]

Die Großsiedlung bei Trettmann und Sido – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Die Musikvideos von Sido und Trettmann veranschaulichen die bedeutende Rolle der westdeutschen Großsiedlung und des ostdeutschen Plattenbaugebiets im Rap. Sie sind Herkunftsorte für viele Rapper (mittlerweile vermehrt auch Rapperinnen). Trotz unterschiedlicher Entwicklungsgeschichte in BRD und DDR werden diese Siedlungen seit den 1990er Jahren als ein vergleichbarer Erfahrungsraum wahrgenommen, der von gesellschaftlichen Schwierigkeiten und Abwertungen geprägt ist. Großsiedlungen funktionierten als eigener Mikrokosmos mit eigenen Regeln, Hierarchien etc. Innerhalb dessen besteht man am besten – laut Rap-Erzählung –, wenn man von einer funktionierenden Freundesgruppe umgeben ist und wenn man stark genug ist, mit diesen Gegebenheiten umzugehen. Sido und im Anschluss weitere Rapper [22] haben das westdeutsche Siedlungsleben mit ihrer Musik ausgeleuchtet, und auch Trettmann nutzt in „Grauer Beton“ diese Genre-Eigenheiten: Es gibt sowohl (visuelle) Inszenierungsparallelen des Großsiedlungslebens, als auch Jugenderfahrungen, auf die beide Rapper verweisen. Eindrücke des gesellschaftlichen Vergessen-Worden-Seins schwingen mit.
Unterschiede zeigen sich im Umgang mit diesen Erfahrungen im Raum Großsiedlung. Sido rappt über seine Erfahrungen als junger Erwachsener scheinbar direkt aus dem lebendigen Märkischen Viertel – die Zuschauer*innen bekommen aus seiner Perspektive Einblicke in das Siedlungsleben, die zwar skandalös, aber auch positiv konnotiert sind. Die Großsiedlungsinszenierung gilt hier als wichtiger Marker für Sidos Rap-Erzählung und insbesondere für seine Rap-Karriere. Von „Mein Block“ ausgehend stellten sich die großen (auch kommerziellen) Erfolge ein.
Trettmanns Rap-Karriere verlief viele Jahre ohne nennenswerte Erfolge: Erst „Grauer Beton“ über sein Aufwachsen im Plattenbau verhalf ihm zur Anerkennung im Rap und zu seinem verspäteten (auch kommerziellen) Durchbruch. Auch bewertet er das Siedlungsleben deutlich düsterer als Sido in „Mein Block“. Trettmann begutachtet viele Jahre später retrospektiv die schwierigen Umstände in der Chemnitzer Fritz-Heckert-Siedlung. Sein Herkunftsort und damit einhergehend seine Jugenderfahrungen sind deutlich negativer konnotiert. Seine Erfahrung ist durch eigene „historische“ Bedeutungen aufgeladen und eng mit „Wende-Erfahrungen“ allgemein verbunden. Erfahrungen, die gerade in den letzten Jahren vermehrt Erinnerungsorte [23] eröffnen, die sich nicht einfach in Schwarz/Weiß-Erzählungen über die DDR oder die 1990er Jahre einordnen lassen. Trettmann erweitert die Wendekind-Erfahrungen, die in den 2010er Jahren an Popularität gewonnen haben, mit einer wichtigen Perspektive. Die Wendekinder und auch „Grauer Beton“ wenden sich von einem einheitlichen Erfolgsnarrativ der deutschen Wiedervereinigung ab [24]. Für Trettmann ist im Nachhinein das Leben in der Großsiedlung der 1990er Jahre eine gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Abwärtsspirale, aus denen Teile der Bewohner*innenschaft es herausschafften – und andere nicht. Viel Positives kann er der damaligen Zeit und den dazugehörigen Umständen nicht abgewinnen.
Während es bei der zeitgenössischen Momentaufnahme Sidos wirkt, als hätten sich die Protagonist*innen mit der Großsiedlung gut arrangiert, attestiert Trettmann der Fritz-Heckert-Siedlung eine perspektivlose Situation in den 1990er Jahren – und heute. Sidos Märkisches Viertel ist zwar in ihrer Substanz gealtert, aber in seinen Augen mit Würde. Vor allem aber scheint die Siedlung vor Lebendigkeit zu vibrieren. Die Fritz-Heckert-Siedlung dagegen zeichnet sich in „Grauer Beton“ durch Menschenleere und Verfall aus. Wenig zeugt von einem regen, attraktiven Leben in einer solchen Großsiedlung. Die Abstiegsspirale der 1990er Jahre scheint sich laut der visuellen Inszenierung weiter fortgesetzt zu haben.
Als Wendekind sozialisiert, schreibt Trettmann eine dann doch spezifische Rap-Biographie (innerhalb des Genres), die sich in bestimmten Textpassagen und Bildern widerspiegeln: die Versprechungen der Jahre 1989/1990, die jugendlichen Träume und Vorbilder, die darauffolgenden Enttäuschungen und Frustrationen, das gefühlte Abgehängt-Sein. Auch die Erfahrung, dass diese Erinnerungen an die Vergangenheit diffuse Emotionen bei ihm auslösen, gehört dazu. Auch Trettmann inszeniert damit eine Herkunftserzählung, die keineswegs geradlinig oder problemfrei verlief. Ausgehend von seiner Jugend in der ostdeutschen Großsiedlung schloss sich nicht eine unmittelbare Erfolgsgeschichte im Rap-Genre an und auch deshalb fällt es ihm schwer im Nachhinein diese Erfahrungen positiv umzudeuten.
Schon lange ist seine Verbindung zu den Orten von Kindheit, Jugend und Herkunft gekappt; ihn verschlägt es nur noch selten nach Chemnitz. Dennoch bleibt dieser Erfahrungsraum ein wichtiger Bezugspunkt seiner Biographie, den er nun mit „Grauer Beton“ künstlerisch einem Publikum präsentiert. Wie oft es Sido noch ins Märkische Viertel verschlägt, das er ehemals nie verlassen wollte, bleibt offen.
Von einem problembehafteten Raum ausgehend, inszenieren die (ehemaligen) Bewohner Sido und Trettmann die Phase ihres Heranwachsens unterschiedlich. Auf ihre Weise beschreiben beide den Raum „Großsiedlung“, der zuvor meist mit Fremdzuschreibungen belegt wurde. Die Musikvideos stehen auch für die Ermächtigung, selbst über das Aufwachsen in der Großsiedlung zu berichten und eine eigene Erzählung (sei es als Herkunfts- oder Aufstiegserzählung) zu entwerfen. Durch den Rap, die kommerziellen Erfolge des Genres und die Stilmittel der beiden Musikvideos (bspw. das Thematisieren jugendkultureller Prägungen) wird ein weites Publikum erreicht, das anhand von „Mein Block“, „Grauer Beton“ und vielen weiteren Musikvideos neue Facetten des Großsiedlungslebens aufgezeigt bekommt.


Fußnoten


[1] „Platte“ ist einer der Begriffe, die Trettmann verwendet, der gleichzeitig aber auch sehr bedeutungsaufgeladen ist. Denn in der DDR sprach man noch von der Neubausiedlung. Erst nach 1989/1990 bekamen diese den Namen „Platte“, der häufig negativ konnotiert ist. Im Kontext dieses Textes wird auch der Begriff „Großsiedlung“ verwendet, der am neutralsten zu werten ist und eine Vergleichbarkeit mit den westdeutschen Großsiedlungen schafft.

[2] Vgl. Trettmann – Grauer Beton live @ splash!21, in: SoulForceRecords, YouTube 2.10.2018, URL: https://www.youtube.com/watch?v=u7nor6SribY.

[3] Vgl. Schmieding, Leonhard, „Das ist unsere Party“. HipHop in der DDR, Stuttgart 2014.

[4] Christiane Reinecke hat diese Fremdzuschreibungen in ihrer Habilitation ausführlich für das Märkische Viertel erarbeitet: Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik, Göttingen 2021; Beispiel für die Berichterstattung: Krüger, Karl-Heinz, Menschen im Experiment, in: Der Spiegel 45/1970, URL: https://www.spiegel.de/kultur/menschen-im-experiment-a-b1e0a21d-0002-0001-0000-000044303116 [13.6.2022].

[5] Zum Beispiel ein Debattenbeitrag: Feldhusen, Gernot, Rückbau oder Gnadentod? Das komplexe Problem der Großsiedlungen in der BRD, in: bausubstanz 3 (1986), S. 6-13.

[6] Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-1982-0823-006,_Chemnitz,_Neubaugebiet_%22Fritz_Heckert%22,_%22Planschbecken%22,_Grünanlage.jpg

[7] Spiegel-TV, Endstation Plattenbausiedlung, veröffentlicht: 29.11.2010, URL: https://www.spiegel.de/video/vor-20-jahren-endstation-plattenbausiedlung-video-1093425.html [13.6.2022].

[8] Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20120407010DR_Berlin-Reinickendorf_Märkisches_Viertel.jpg

[9] Die Bedeutung einer Jugendgruppe wird auch in anderen popkulturellen Medien betont: bspw. in den Filmen Als wir träumten (Regie: Andreas Dresen) oder Wir sind jung. Wir sind stark (Regie: Burhan Qurbani).

[10] Vgl. Fröhlich, Gerrit u. Daniel Röder, Über sich selbst rappen. Gangsta-Rap als populärkultureller Biografiegenerator, in: Seeliger, Martin u. Marc Dietrich (Hg.), Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration, Bielefeld 2017, S. 133-152.

[11] https://www.youtube.com/watch?v=hHT_hEuTtxg [13.6.2022].

[12] Vgl. Trettmann Doku: Nur damit du weißt, wo ich herkomm‘ – in Chemnitz, Leipzig und Berlin, in: splash! auf YouTube 4.10.2017, URL: https://www.youtube.com/watch?v=LVdzE_-ITnE [13.6.2022].

[13] Vgl. Bortot, Davide, KitschKrieg. Der abwegig gute Move, in: Das Wetter Magazin 12 (2017).

[14] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Sibylle Bergemann, Plattenbau, in: Dossier Ostzeit, URL: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ostzeit/55541/plattenbau [13.6..2022].

[15] Vgl. Lux, Anna, „Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt/Bin ein Verlierer, Baby/Origina(l)Ostler“. Der Osten als Ort pluraler Beheimatung in der Populären Musik seit 2000, in: Leistner, Alexander u. Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftsumbruchs, Köln 2022, S. 310-330, hier S. 325.

[16] Splash!, Trettmann Doku. „Nur damit du weißt, wo ich herkomm‘“ – In Chemnitz, Leipzig und Berlin, 4.10.2017, URL: https://www.youtube.com/watch?v=LVdzE_-ITnE [13.6.2022].

[17] Vgl. Kellner-Zotz, Bianca, Sidos Ossi-Sein, in: Das mediale Erbe der DDR. Akteure, Aneignung, Tradierung 6.5.2022, URL: https://medienerbe.hypotheses.org/3299 [13.6.2022].

[18] Vgl. Reinecke 2021.

[19] Vgl. Dietrich, Marc, Rap als Forschungsgegenstand, in: APuZ 9/2018, S. 7f.

[20] Vgl. Fröhlich/Röder 2017.

[21] https://www.youtube.com/watch?v=0UKtOhLVeyA [13.6.2022]

[22] Zum Beispiel der Rapper Luvre 47 und die Gropiusstadt in Neukölln; OG Keemo und die Papageien-Siedlung auf dem Mainzer Lerchenberg.

[23] Lux 2022.

[24] Zu den Wendekindern, beispielsweise: Bürgel, Tanja, Ostdeutsche Generationen als Einwanderer in die Bundesrepublik und die Perspektiven der Wendekinder als Generation, in: Best, Heinrich/Everhard Holtmann (Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2012, S. 172-186; Lettrari, Adriana, Nestler, Christian u. Nadja Troi-Boeck, Die Generation der Wendekinder. Elaboration eines Forschungsfeldes, Wiesbaden 2016.

"89 goes Pop" ist Teil des BMBF-Verbundprojekt "Das umstrittene Erbe von 1989"

Weitere Informationen unter www.erbe89.de