89 goes Pop! Popkultur als Zugang in der Vermittlung über Friedliche Revolution und Transformationszeit
Mit Anna Lux, Dokumentation von Irene Beyer, Freiburg/Berlin, 2022

Anna Lux aus unserem Team war im September online zu Gast im Lernort Keibelstraße Berlin und berichtete dort vom weiten Feld der populären Geschichtsdarstellungen, die sich mit 1989/90, Friedlicher Revolution sowie mit den nachfolgenden Jahren beschäftigen. Dabei gab sie einen Überblick über die verschiedenen Medien und Genres (Romane, Spielfilme, Musik etc.) und stellte auch „89 goes Pop“ vor. Zum anderen wurde anhand konkreter Beispiele über Potentiale und Herausforderungen von Popkultur in der historischen Vermittlungspraxis diskutiert. Der folgende Artikel dokumentiert das Seminar.

 

Hier gehts zur Original-Dokumentation vom Lernort Keibelstraße, die wir im Folgenden weitgehend übernommen haben.


Der Lernort Keibelstraße in Trägerschaft der Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V. geht derzeit in einer fünfteiligen Seminarreihe der Frage nach, welche Zugänge historische Bildung Kindern und Jugendlichen zur Geschichte der DDR bieten und wie die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Geschichte für sie gelingen kann.

Im zweiten Seminar dieser Reihe lenkte Dr. Anna Lux den Blick auf das weite Feld der populären Geschichtsdarstellungen, die sich mit 1989/90, Friedlicher Revolution und den nachfolgenden Jahren beschäftigen. Sie ging von der zentralen These aus, dass in dieser populären Geschichtskultur großes Potenzial für die Vermittlungsarbeit stecke, aber auch einige Herausforderungen. Ihre einleitende Frage nach den Erfahrungen der Teilnehmenden dazu ergab, dass einige bereits mit populären Quellen aus der Zeit gearbeitet haben.

 

Projektvorstellung

Das Forschungsprojekt “Das umstrittene Erbe von 1989. Aneignungen zwischen Politisierung, Popularisierung und historisch-politischer Geschichtsvermittlung” von Lux befasse sich im Unterschied dazu nicht mit Quellen, sondern mit populären Medien, die ab 1990 entstanden und die Vergangenheit mit unterhaltenden Mitteln darstellten. Es verfolge drei Hauptfragen: Zunächst wolle man das Feld der populären Geschichtskultur zur „Wende“ erschließen und breiter zugänglich machen. Dabei fasse man den Zeitraum im Sinne einer „langen Geschichte der Wende“ von den späten 80er Jahren bis in die 00er Jahre hinein. Lux stellte dar, dass es in verschiedenen populärkulturellen Genres viele Bezüge auf 1989 und die Transformationszeit gebe. In manchen Werken sei die Beschäftigung mit der Zeit dezidiert, häufiger jedoch werde die Wende zum Beispiel in Romanen als Bruch dargestellt, der das Erleben in ein „Davor“ und „Danach“ unterteile.

Die zweite Fragestellung des Projektes richte sich auf die transportierten Geschichtsbilder. Welche Deutungen werden aufgegriffen und verhandelt? Wie verhalten sie sich zur Meistergeschichte über die Wende? Diese sei eine recht homogene Darstellung der Wende als erfolgreiche Freiheits- und Einheitsgeschichte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit der historischen Abläufe. In den populären Darstellungen dagegen sei ein deutlich pluraleres Spektrum zu finden, das auch Ambivalenz-, Verlust- und Krisenerzählungen umfasse. Lux führte auf die Frage nach einem Erklärungsansatz für diesen Unterschied zwischen dem sehr einheitlichen Masternarrativ und der Pluralität in populären Darstellungen aus, dass diese sehr oft individuelle Geschichten erzählten und dadurch nicht immer im einzelnen Werk, aber in der Summe eine stärkere Breite und Mehrperspektivität böten. Sie setzten sich zudem immer mit der Meistererzählung auseinander und griffen auf diese Weise verschiedene Perspektiven auf.

Der dritte Fokus im Forschungsprojekt liege auf dem Transferaspekt: Wie kann man die Forschungserkenntnisse und Befunde des Projekts an ein breiteres Publikum bringen? Lux berichtete von Lesungen, die sie in Freiburg bereits dazu veranstaltet hätten. Diese hätten sich als erfolgreich erwiesen, um Zielgruppen zu erreichen, die keine oder wenig lebensweltliche Bezüge zum Thema haben.

Lux führte weiter aus, dass sie im Forschungsprojekt die auf diese Weise erschlossene Landschaft der populären Geschichtskultur zusätzlich vertiefend unter vier verschiedenen Aspekten befragt habe: Erstens habe sie sich mit der Darstellung von Gewalt in der Wendezeit beschäftigt. Wie wird diese „Schattenseite der Friedlichen Revolution“ zum Beispiel in Romanen aufgegriffen? Ein zweites Thema sei die Frage nach der Thematisierung damaliger Zukunftsvorstellungen wie der „dritte Weg“ und die „blühenden Landschaften“ gewesen. Wie wurden diese Zukunftsvorstellungen in der populären Geschichtskultur thematisiert? Die dritte Vertiefungsfrage habe sich mit der Darstellung von Geschlecht in der Friedlichen Revolution befasst und dafür unter anderem die Serie „Weißensee“ analysiert. Und viertens habe sie sich mit Musik als Erinnerungsmedium auseinandergesetzt, denn hier habe in den letzten zehn bis 15 Jahren eine starke Auseinandersetzung mit der Wendezeit und ostdeutschen Erfahrungsräumen stattgefunden.

 

89goespop.de


Die Webseite des Forschungsprojekts „89 goes Pop“ biete, so Lux, einen niedrigschwelligen Zugang und Unterstützung für die Suche nach Medien für die Vermittlungsarbeit. Sortiert in die Genres Musik, Digitales, Literatur und Film würden hier jeweils kurze Texte und eine reichhaltige Sammlung zur Verfügung gestellt. Im Bereich Musik befinde sich eine relativ vollständige, chronologisch geordnete Übersicht. Im Menüpunkt Digitales hingegen habe man eher eine Auswahl zusammengestellt. Hier seien auch Beispiele für migrantische Perspektiven zu finden. Auch in der Literatur als dem größten Sachgebiet finde sich eine Auswahl, nach den darin eingenommenen Perspektiven geordnet. Der Bereich Film sei noch im Aufbau. Der Menüpunkt „Analysen“ schließlich biete verschiedene, kürzere Beiträge und werde kontinuierlich ergänzt.

 

Potenziale und Herausforderungen populärer Geschichtsdarstellungen

Für den Austausch mit den Teilnehmenden zu Potenzialen und Herausforderungen populärer Geschichtsdarstellungen in der Geschichtsvermittlung brachte Lux als Beispiel den Song „König der Hunde“ von Romano aus dem Jahr 2017 zu Gehör. Ein Rap-Song sei exemplarisch besonders geeignet, weil dieser Musikstil viele Beiträge der populären Geschichtskultur zur Wendezeit hervorgebracht habe.

 

Ein*e Teilnehmer*in bestätigte, dass das Genre Rap bei Jugendlichen populär sei und deshalb Zugänge für die Vermittlungsarbeit mit dieser Zielgruppe biete. Andererseits greife der Songtext sehr viele Themen auf und stelle in großer Dichte diverse Bezüge zu einer ostdeutschen Jugend Anfang der 90er Jahre her, die von heutigen Jugendlichen nicht mehr verstanden werden könnten. Dies wurde von vielen Teilnehmenden bestätigt und einige aufgegriffene Aspekte zusammengetragen: Das Thema politische Neuorientierung – „vom Punk zum Neonazi“; die Erzählung über eine rundum problematische DDR-Jugend und -Jugendkultur als Spiegelbild zur offiziellen Erfolgsgeschichte; der Refrain mit einem als problematisch empfundenen Bezug zu „Nackt unter Wölfen“.

Der Song wurde ob dieser Dichte von vielen Teilnehmenden als herausfordernd empfunden, weshalb sie für die pädagogische Arbeit entweder Abstand davon nehmen oder wenige Themen gezielt herausgreifen würden. Alternativ könne man Jugendliche selbst ihre Themen herausfiltern lassen. In weiteren Beiträgen zu einer möglichen Didaktik wurde die Idee geäußert, den Song als Einstieg ins Thema zu nutzen, die Herausforderung als solche zu benennen und die Jugendlichen aufzufordern, Themen herauszuarbeiten, die nach der Wiedervereinigung eine Rolle gespielt hätten. Herausgestellt wurde das Potenzial des Songs für die Bearbeitung im fächerübergreifenden Unterricht. Hier könnten Musik und Geschichte verbunden sowie ästhetische Fragen einbezogen werden, eventuell in Kooperation von Geschichts- und Musikunterricht.

Lux warb in diesem Zusammenhang dafür, die Dichte des Songs als positive Herausforderung zu verstehen. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche zwar tatsächlich vieles nicht verstanden, den Song aber trotzdem interessant fanden und an die dargestellten Unsicherheitserfahrungen von Jugendlichen anknüpfen konnten. Sie hob in diesem Zusammenhang den im Song aufgerufenen Freiheitsbegriff hervor, der für die Wendezeit ein Zuviel an Freiheit andeute.

Breiteren Raum nahm im Austausch die im Song dargestellte Männlichkeit ein, die in ihrer Ungebrochenheit als problematisch empfunden wurde. Hier werde ein maskulinistisches Narrativ präsentiert. Andererseits biete der Song dadurch auch die Möglichkeit, genau dieses verengte Männlichkeitsbild zu thematisieren und zu dekonstruieren. „Aus welcher Perspektive wird hier erzählt?“ könne als pädagogische Leitfrage dienen, um sowohl das Thema Männlichkeitsdiskurse in der Wendezeit als auch das Thema Rap und Männlichkeitsdiskurse zu bearbeiten.

Ein weiterer Diskussionsstrang befasste sich mit der Frage, warum der Song, obwohl erst 2017  geschrieben, in seiner Perspektive und Ästhetik so stark in der Wendezeit verortet sei. Das Fehlen einer reflektierenden Rückschau wurde teils als befremdlich empfunden. Marzinka informierte in diesem Zusammenhang darüber, dass es aktuell eine starke Beschäftigung von 70er Jahre-Geborenen mit der Wendezeit gebe und die Entstehung des Songs damit in Verbindung stehen könne.

Abschließend verwies Lux auf eine Website, die unter dem Titel "89 rockt! Geschichte hören und verstehen" demnächst online gehen werde. Hier würden konkrete didaktische Vorschläge zu Popmusik als Zugang für historisches Lernen online gestellt, die in einem Projekt gemeinsam mit Prof. Juliane Brauer von der Universität Wuppertal erarbeitet worden seien.

"89 goes Pop" ist Teil des BMBF-Verbundprojekt "Das umstrittene Erbe von 1989"

Weitere Informationen unter www.erbe89.de