Erinnern stören, Geschichte neu erzählen – Postmigrantische Perspektiven auf 89/90
von Katja Binder, Freiburg/Br.
Einführung
Freiheit, Glück, Einheit, Friedliche Revolution – diese Begriffe tauchen immer wieder auf, wenn wir über die Jahre 1989 und 1990 sprechen. Eine Google-Suche nach „1989“ überflutet uns mit Fotos von Demonstrierenden aus Leipzig oder glücklichen Menschen, die in der Nacht vom 9. November auf der Berliner Mauer stehen. Die lange Zeit dominierende offizielle Erinnerung an 1989/90 vermittelt uns eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Doch das ist nicht das Narrativ, mit dem sich alle Menschen in Deutschland identifizieren können.
In den letzten Jahren, insbesondere im Zuge des 30-jährigen Mauerfall-Jubiläums, wurde zunehmend hinterfragt, ob 1989/90 tatsächlich für alle Menschen in unserer Gesellschaft eine Erfolgsgeschichte ist? Und wer ist mit dem „wir“ aus „Wir sind das Volk“ und später „Wir sind ein Volk“ eigentlich gemeint? Vor diesem Hintergrund wurde deutlich, dass 1989/90 auch mit ganz anderen Phänomenen verbunden ist, mit Ereignissen, die in scharfem Kontrast zu positiven Assoziationen stehen. Etwa mit schwierigen Umbrucherfahrungen in den Nachwendejahren, mit dem Gefühl von Enttäuschung oder Identitätsverlust. 1989/90 wird auch mit einer Verstärkung der Bedrohung durch Rassismus und rechte Gewalt in den Nachwendejahren in Verbindung gebracht. Mit dem Gefühl, im vereinigten Deutschland nicht willkommen zu sein, nicht dazuzugehören. Gleichzeitig werden die Nachwendejahre auch mit Erinnerungen an Widerstandsbewegungen und Solidarisierung verbunden. All das zeigt, dass „89/90“ ein vielschichtiger und komplexer Erinnerungsort ist.
Populäre Geschichtskultur, also Darstellungen von Geschichte in Filmen, Romanen, Comics etc. kann – folgen wir den Ausführungen von Sylvia Paletschek und Barbara Korte – eine wichtige Rolle dabei spielen, Perspektiven sichtbar zu machen, die in Geschichtsschreibung und offizieller Erinnerungskultur ausgeschlossen oder marginalisiert werden (1). Diese betrifft zum Beispiel die Perspektiven von Jüdinnen und Juden in Deutschland, von Schwarzen Deutschen oder Menschen mit Migrationsgeschichte, wie ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in der DDR, Gastarbeiter*innen in der BRD, Sinti*zze und Rom*nja, Geflüchteten oder internationalen Studierenden. Inwiefern revidieren, ergänzen oder verändern die Perspektiven der Genannten die bisher dominierenden Deutungen von 1989/90? Welchen Stellenwert und Einfluss können dabei populäre Darstellungen haben? Um diese Fragen geht es in diesem Text.
Diskursverschiebungen
Unsere Erinnerung unterliegt einem ständigen Wandel. Wie Saskia Handro hervorhebt, sind Erinnerungsnarrative nicht lediglich auf Vergangenheit fixiert, sondern spiegeln immer auch die
Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen einer Gesellschaft wider (2). Ein Vergleich der politischen und gesellschaftlichen Lage der Jubiläumsjahre 2009 und 2019 zeigt eindrücklich, wie sich
die Rolle und Relevanz migrantischer und jüdischer Perspektiven in unserem Erinnerungsdiskurs verändert haben. So prägten das offizielle Erinnern im Jahr 2009 noch hauptsächlich der Mauerfall und
das Narrativ von der Friedlichen Revolution als Erfolgsgeschichte. Rassismus spielte im breiteren öffentlichen Diskurs zu der Zeit keine große Rolle und war auch in der Forschung noch nicht als
Analysebegriff für die Geschichte der Wende- und Nachwendezeit etabliert (3).
Das Jubiläum 2019 hingegen verweist auf eine immer heterogener werdende Erinnerungslandschaft, in der das Erfolgsnarrativ, das die Jahre 1989/90 als „glücklichen Endpunkt“ des 20. Jahrhunderts
versteht, zunehmend hinterfragt wird.
Entwicklungen wie die Aufdeckung des NSU-Komplexes seit 2011, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ 2015, die Pegida-Proteste, der Einzug der AfD (Alternative für Deutschland) in den Bundestag 2017
sowie zahlreiche tödliche rassistische und antisemitische Angriffe wie 2019 in Halle und 2020 in Hanau forderten auch eine Umgestaltung unserer Erinnerung heraus. Zugleich etablierte sich mit dem
Erstarken von antirassistischen Bewegungen und einer Zunahme rassismuskritischer Bildungsarbeit generell ein stärkeres Bewusstsein für Rassismus in unserer Gesellschaft.
Die „Baseballschlägerjahre“ als Teil der (populären) Geschichtskultur
Auf der Suche nach Kontinuitäten und Ursachen für die gegenwärtige Zunahme von Rassismus und rechter Gewalt gelangen wir auch zur „Wende“ und ihren Auswirkungen in den 1990er Jahren. Zur
Beschreibung der Entwicklung in dieser Zeit v.a. im Osten Deutschlands prägte der ZEIT-Journalist Christian Bangel den Begriff „Baseballschlägerjahre“. Inspiriert durch einen Zeitungsartikel
hatte Bangel 2019 auf Twitter dazu aufgerufen, unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre Erfahrungen und Erinnerungen an rechte Gewalt zu teilen (4). Es meldeten sich daraufhin hunderte Menschen
und eine öffentlich breitere Diskussion über diese Erfahrungen setzte ein. Ein Jahr später erschien eine gleichnamige sechsteilige Doku-Serie von rbb und ZEIT-Online, in der vorrangig aus der
Betroffenenperspektive Erfahrungen und Facetten dieser Zeit erzählt werden (5).
Im Fokus der Episode „Ich bleibe“ bspw. steht Nguyen Dinh Khoi aus Rostock, der von seinen Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit und Gewalt in den 1990er Jahren berichtet. Er könne die
schmerzhaften Erlebnisse nie vergessen, betont er, doch sei es ihm immer wichtig gewesen, sich gegen den Hass zu wehren. Im Interview knüpft seine Tochter an diesen Gedanken an und appelliert an
die jüngere Generation heute, nicht still und passiv zu bleiben, sondern sich entschlossen gegen Rassismus zu positionieren.
Auch das Online-Projekt „zweiteroktober90“ leistet seinen Teil zur Sichtbarmachung und Aufarbeitung der „Baseballschlägerjahre“, hier durch die Dokumentation der Vorfälle rechter Gewalt gegen Migrant*innen und Linke in ostdeutschen Städten in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 (7).
Auch in Literatur und Musik gab es in den letzten Jahren eine intensivere Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen und Erfahrungen. Ein Song wie „9010“ von Kummer reflektiert sie ebenso wie literarische Darstellungen über die Nachwendezeit. Romane wie Manja Präkels’ „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017), Peter Richters „89/90“ (2019) oder auch Tijan Silas „Tierchen unlimited“ (2017) beschreiben rechte Gewalt in den 1990er Jahren als etwas Alltägliches und Allgegenwärtiges. Dabei kommt in den Romanen insbesondere das Unberechenbare zum Ausdruck: Rechtsextreme Gewalt war eine Bedrohung für Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte, für Linksalternative und für alle anderen, die irgendwie nicht ins rechte Weltbild passten.
Orte wie Hoyerswerda, Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen wurden zu Symbolen der Gewalt in Ost und West in dieser Zeit. Die Pogrome in Rostock im August 1992 beschreibt die Autorin Manja
Präkels aus der Perspektive ihrer Protagonistin Mimi wie folgt:
„Auf allen Kanälen scharte sich die Meute um denselben Neubaublock. Die hysterischen Stimmen der Leute, Sprechchöre aus Niedertracht und Gemeinheit krochen aus dem Apparat in das Zimmer,
schnürten uns die Kehlen zu, schmerzten in den Ohren. […] Dann zeigten sie Bilder des Vorabends, als Brandsätze in die Fenster geflogen waren. […] Trinkend saßen wir so lange zusammen, bis eines
der Hippiemädchen zu weinen begann. Dann heulten alle. Für uns war nichts mehr drin. Sie waren überall. Und nun sogar im Fernsehen.“ (Manja Präkels: „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“,
S. 136)
Auch in der Geschichtsforschung lassen sich die Diskursverschiebungen nachzeichnen. Neuere Darstellungen zur Geschichte von 1989/90 wie Ilko-Sascha Kowalczuks „Die Übernahme“ (2019), Steffen Maus
„Lütten Klein“ (2019), Thomas Großböltings „Wiedervereinigungsgesellschaft“ (2020) oder der Band „Die lange Geschichte der ‚Wende’“ (2020) von Kerstin Brückweh, Clemens Villinger und Kathrin
Zöllner differenzieren und erweitern zunehmend das Erfolgsnarrativ der Wiedervereinigung, indem sie den Transformationsprozess einbinden und auch die Zunahme von rassistischer Gewalt und
„Fremdenfeindlichkeit“ (ein Begriff der 1990er Jahre) thematisieren
1989 und die postmigrantische Gesellschaft
Neben einer verstärkten Auseinandersetzung mit (ostdeutschen) Umbrucherfahrungen sowie der Präsenz von Rassismus und rechter Gewalt in den Nachwendejahren, beeinflusste in den letzten Jahren das
Thema Migration allgemein den Erinnerungsdiskurs um 1989/90. Auch wenn sich schon früh eine interdisziplinäre Migrationsforschung in Deutschland etabliert hatte, kamen insbesondere in den letzten
Jahren Werke hinzu, die Leerstellen füllten und frische Perspektiven lieferten. Ein Beispiel dafür ist Jan Plampers Buch „Das neue Wir“ (2019), das die Geschichte der Deutschen als Geschichte der
Migration erzählt. Plamper deutet 1989 als „zweite Epochenschwelle der Migration Deutschlands“, die erstmals wieder nach 1945 eine neue Geschwindigkeit der Migration auslöste und zugleich eine
Zäsur migrantischen Lebens markierte (9). Plamper beschreibt seine Intentionen für das Buch mit den Worten „Empowerment“ und „Empathie“ (10). Zudem plädiert er für eine neue kollektive Identität
innerhalb einer postmigrantischen Gesellschaft, die bereits seit Jahrzehnten durch Migration geprägt sei. „Das neue Wir“, so Plamper, erlaube es, mehrere individuelle Identitäten und
Zugehörigkeiten auszuleben, die sich nicht ausschließen müssen.
Auch Maria Alexopoulou beschreibt in ihrem Buch „Deutschland und die Migration“ (2020) die Geschichte Deutschlands als die Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft. Sie bezeichnet Rassismus als
„blinden Fleck der neuesten deutschen Geschichte“, der Deutschland auf dem Weg zur Einwanderungsgesellschaft begleitet habe (11). Alexopoulou betont zugleich die Relevanz „migrantischer
Gegengeschichten“, um die deutsche Geschichtsschreibung „zurechtrücken“ zu können (12). Solche „Gegengeschichten“ wie Alexopoulou sie nennt, finden verstärkt in populären Darstellungen einen Ort.
Neue (und alte) Erzählungen in der populären Geschichtskultur.
Ein Überblick
Literatur
Ein wichtiges Beispiel für diese „Gegengeschichten“ ist die 2016 erschienene, preisgekrönte Graphic Novel „Madgermanes“ von Birgit Weyhe. Darin erzählt die Autorin von der bis dahin kaum
bekannten Geschichte mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen in der DDR sowie von ihrem Leben nach der „Wende“. Weyhe führte im Vorfeld Gespräche mit Zeitzeug*innen, deren Erfahrungen und
Erinnerungen sie dazu inspirierten, sie in drei fiktionalen Charakteren mit jeweils eigener Geschichte zu verdichten.
Die Graphic Novel thematisiert die Ankunft der Vertragsarbeiter*innen in der DDR, ihren Lebensalltag, positive Erlebnisse, Freundschaften und Liebesbeziehungen, aber auch Erinnerungen an
Einsamkeit und Angst, an Alltagsrassismus und Gewalt. 1989 stellt in allen drei Geschichten eine Zäsur dar, die den Verlust des Arbeitsplatzes und der Aufenthaltserlaubnis sowie die Bedrohung
durch einen neuen, aggressiven Rassismus bedeutete und die das Leben der drei Figuren grundlegend veränderte. Die Geschichten werfen zudem einen Blick auf das Leben nach der DDR. Sie befassen
sich mit der komplizierten Frage nach Zugehörigkeit und mit dem Gefühl, sich in zwei Kulturen „fremd“ zu fühlen. So lässt Weyhe eine ihrer Figuren reflektieren:
„Wie alle anderen Emigranten, die sich auf den Weg in ein neues Leben gemacht haben, gehöre ich weder zu dem einen noch dem anderen Land. Wir sind alle ohne Bindung, ohne Anker, schwebend
zwischen den Kulturen. Egal, ob wir zurückkehren oder bleiben.“ (Birgit Weyhe: Madgermanes, S. 236)
Nicht zuletzt geht es in „Madgermanes“ auch um den fortbestehenden Frust, die Enttäuschung und den Kampf um bis heute ausstehende Löhne und Rentenansprüche. Im populären Format einer Graphic
Novel erfolgt hier gewissermaßen zweierlei: Das Buch ist zum einen ein Plädoyer für Gerechtigkeit und zum anderen ein Aufruf zur Beschäftigung und Aufarbeitung dieses Teils der deutschen
Geschichte.
Die Auseinandersetzung mit der Frage, was Identität ausmacht und formt, findet auch in Romanen statt, die (teilweise) in den 1990er Jahren spielen. In „Brüder“ (2019) von Jackie Thomae geht es um
zwei Halbbrüder, die als Söhne eines senegalesischen Studenten bei zwei unterschiedlichen Müttern in der DDR aufwachsen und trotz ihrer ähnlichen Herkunft nach der „Wende“ völlig andere Leben in
Berlin und in London führen. Interessanterweise werden die Themen Schwarzsein und Rassismus von Thomae hier neben anderen behandelt, und die vielfältigen Erfahrungen aus der Nachwendezeit sind
eingebunden in biografische Komplexität. Dieses Vorgehen sei, so Thomae in einem Interview, in gewisser Weise auch eine Antwort darauf, sich andauernd als „Betroffene“ und Person of Colour zum
Thema Rassismus äußern zu müssen (13).
Deutlich kritischer und offensiver geht der Roman „1000 Serpentinen Angst“ (2020) von Olivia Wenzel mit Ausgrenzungs-erfahrungen in DDR und Wendezeit um. In ihrem Roman reflektiert die Autorin
als Schwarze, ostdeutsche und queere Frau gleich mehrere Identitätszuschreibungen und damit verbundene Diskriminierungserfahrungen. In einer besonderen, dialogischen Form wird an verschiedenen
Orten zu unterschiedlichen Zeiten über Alltagsrassismus gesprochen.
1989/90 stellt in beiden Romanen auf der Handlungsebene nur einen beiläufigen Bezugspunkt dar, doch markieren die Ereignisse eine unhintergehbare Zäsur, von der aus die Erzählungen ihren Lauf
nehmen.
Musik
In der Musik ist der Song „Fremd im eigenen Land“ der HipHop-Gruppe Advanced Chemistry ein früher und wichtiger Beitrag im Diskurs. In dem Lied von 1992 reflektieren sie Erfahrungen mit
Alltagsrassismus in der Alt-Bundesrepublik sowie die Zunahme von Gewalt und Rassismus im Zuge der Wiedervereinigung.
„Pogrome entstehen, Polizei steht daneben
Ein deutscher Staatsbürger fürchtet um sein Leben.
In der Fernsehsendung die Wiedervereinigung
Anfangs hab ich mich gefreut, doch schnell hab ich’s bereut
Denn noch nie seit ich denken kann, war’s so schlimm wie heut.“
(Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land, 1992)
Fast 30 Jahre später und anlässlich des 30. Mauerfall-Jubiläums gab die Bundeszentrale für politische Bildung einen Song zum Thema in Auftrag. Dieser stammt von dem bekannten Rapper Eko Fresh,
Sohn türkischstämmiger Eltern, geboren in Köln. Sein Song über 1989 handelt nur teilweise von eigenen Erfahrungen und Erinnerungen und ist vor allem das Ergebnis von Kommentaren und Beiträgen
seiner Hörer*innen über Social-Media-Kanäle. Der Song heißt schlicht „1989“ und reproduziert eher das klassische Erfolgs- und Freiheitsnarrativ, nicht zuletzt mit Referenz auf David Hasselhoff:
1989 – „Es war looking for freedom“. Die Aktualität von Rechtspopulismus findet hier nur am Rande Erwähnung. In einem didaktisch gerahmten Format vermischen sich in dem Song auf analytisch
interessante, ästhetisch-musikalisch eher uninspirierende Weise verschiedenen Ebenen des Erinnerungsdiskurses, indem das „klassische“ Erfolgsnarrativ mit einer migrantischen Perspektive zu
verbinden gesucht wird. Ein solcher Versuch verweist auf die Bewegungen im Diskurs, aber auch darauf, dass es gerade im Feld Musik noch Raum für interessante Repräsentationen jenseits der
„Mehrheitsgesellschaft“ gibt.
Ausstellungen: analog und digital
Nicht zuletzt thematisierten Ausstellungen, Tagungen und andere Veranstaltungen im Umfeld des 30-jährigen Jubiläums von Friedlicher Revolution und Mauerfall bewusst Narrative, die die
Wiedervereinigung nicht als reine Erfolgsgeschichte erzählen. Die Ausstellung „Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost“ des FHXB Museum in Berlin etwa ist explizit aus
dem Wunsch heraus entstanden, „alternative Erinnerungsräume“ in den Fokus zu rücken (14). Die Ausstellung ist zwar nicht mehr vor Ort zu sehen, doch es gibt einen digitalen Rundgang auf
Instagram.
Konkret widmete sich die Ausstellung „Bewegungsgeschichten aus Ost- und Westberlin“ und politischen Kämpfen gegen Rassismus und für Gerechtigkeit und Partizipation, deren Geschichte bis in die
1970er Jahre zurückgeht. Ein wichtiges Ziel der Ausstellung ist es, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu einem Erfahrungsaustausch zu ermutigen und damit einen kollektiven Geschichtsbildungsprozess
anzustoßen. Erinnerungskultur müsse „mehr als nur die Mehrheitsgesellschaft im Gedächtnis be(in)halten“, (15) so Peggy Piesche im Vorwort des zur Ausstellung erschienenen gleichnamigen
Ausstellungsbandes. In diesem kommen in acht Porträts politische Aktivistinnen* aus Schwarzen, People of Color- und/oder queer* feministischen Positionierungen mit Ost- und Westbiografien zu
Wort. Zwischen den Porträts findet sich das Kapitel „Bewegungsmomente“, angereichert mit fotografischen und dokumentarischen Quellen, die antirassistisches und feministisches Engagement in Ost
und West dokumentieren.
Ein anderes Beispiel ist die Online-Ausstellung „Anderen wurde es schwindelig. 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch“ der Bildungsstätte Anne Frank. Auch diese hat zum Ziel, das „vielschichtige,
uneinige Bild der deutschen Einheit“ abzubilden. Titelgebend ist das Zitat der Lyrikerin May Ayim „Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig.“ Mithilfe von
Videoporträts macht die Ausstellung die schwindelerregenden „Geschichten von Hass und Gewalt […] als Kapitel der Wende-Erzählung“ sichtbar und stellt das gängige Erfolgsnarrativ von 1989/90 in
Frage. Zentral ist, wie in anderen ähnlich gelagerten Projekten, auch hier die Aufforderung zum aktiven Zuhören. Ziel ist ein aktiver Dialog mit konkret Betroffenen, um nicht nur eine neue
Erinnerung, sondern auch Zukunft zu gestalten (16).
Ein drittes großes Online-Projekt aus dem Jahr 2020 findet sich auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Titel „Erinnern stören“. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von
Kurzfilmen und Dokumentationen sowie um die Publikation eines gleichnamigen Sammelbands. Die Darstellungen streben an, das vorherrschende Erinnern an Friedliche Revolution und Wiedervereinigung
zu stören und die Erinnerung an 1989/90 substanziell durch das Erzählen neuer Geschichten aus bisher wenig sichtbaren Perspektiven zu verändern.14 Das Projekt ist ein wichtiges Beispiel dafür,
wie im Medium des Populären durch die Diversifizierung in Forschung, Popkultur und öffentlicher Debatten der letzten zehn Jahre neue Räume der Aushandlung entstehen konnten.
Im Porträt: „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“
Im Folgenden soll es ausführlicher um das Buch „Erinnern stören“ gehen. Es erschien zum Jubiläumstag am 3. Oktober 2020 im Verbrecher-Verlag und wurde im Berliner Maxim-Gorki-Theater vorgestellt.
Das Projekt „Erinnern stören“ ist Teil eines Dossiers der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Migration, in dem über die Geschichte der Migration in Deutschland und verschiedener
Solidaritätsbewegungen informiert wird sowie diverse antirassistische Projekte vorgestellt werden (17). Die Autorinnen und Autoren von „Erinnern stören“ sind insgesamt eher jung, doch zeugt das
Buch von dem Anliegen, mehrere Generationen zu Wort kommen zu lassen. Die größte Gruppe bilden die „Wendekinder“, die den Umbruch von 1989/90 als Kinder oder Jugendliche erlebt haben und im Zuge
dessen oder danach politisiert wurden. Andere Autor*innen (auch die Mitherausgeberin Lydie Lierke) sind jünger und gehören der „Nachwendegeneration“ an, die sich in den letzten Jahren verstärkt
am kritischen Diskurs beteiligt.
Die Mitwirkenden haben vielfältige biografische und berufliche Hintergründe, beschäftigen sich jedoch alle mit Nachwende-Erinnerungen und Erinnerungspolitik aus migrantischer oder jüdischer
Perspektive, mit Rassismus und Antisemitismus oder mit migrantischer Selbstorganisation. Die Mehrheit ist politisch aktiv und engagiert in den Initiativen und Vereinen, über die im Buch
geschrieben wird. Der Sammelband vereint durch die vielseitige Autorenschaft unterschiedliche Textformate und Zugänge und wechselt zwischen historisch-politischen Analysen und biografischen, zum
Teil emotional geprägten Erzählungen.
Der Wechsel der Perspektiven ist bewusst gewählt und zielt auf die Verdeutlichung der Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit des Erinnerungsprozesses. So erklären Lierke und Perinelli in ihrem
Vorwort, dass „die Geschichte der marginalisierten Stimmen im Prozess der deutschen Vereinigung noch nicht geschrieben wurde und immer noch Geschichten erzählt werden müssen.“ (18)
Entsprechend verstehen die Autor*innen ihre Beiträge nicht als wissenschaftliche, distanzierte Reflektionen einer abgeschlossenen Geschichte, sondern eher als ein Erzählen, sich Vergegenwärtigen und Erinnern. Dafür wählen sie häufig einen persönlichen, emotionalen Zugang. Historische Ereignisse und Entwicklungen werden in „Erinnern stören“ vor allem entlang der Biografien einzelner, „normaler“ Leute erzählt. Die Autor*innen suchen in diesen Texten nach einer „gemeinsamen kollektiven Geschichte im Persönlichen und Individuellen“ und gestalten diese Suche vornehmlich durch alltags- und erfahrungsgeschichtliche Themen. Das alles geschieht vor dem aktivistischen Hintergrund der Autorinnen und Autoren, was den „Prozess des Erinnerns“ letztendlich zur (erinnerungs-)politischen Praxis macht (19).
Ein Mosaik an Erinnerungen
Der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann hat einst auf die Gefahr hingewiesen, dass stark personifizierte Geschichtsdarstellungen dazu neigen, monoperspektivisch zu operieren und die eine
Perspektive als richtig und wahr zu positionieren (20). „Erinnern stören“ hält dem das Konzept des „multidirektionalen Erinnerns“ entgegen (über das gegenwärtig auch öffentlich verstärkt
debattiert wird) (21). Das Konzept geht auf den amerikanischen Historiker Michael Rothberg zurück, der einen produktiven Vergleich von Erinnerungen vorschlägt (22). Im Dialog zwischen
verschiedenen Erinnerungskulturen sollen Verbindungen und reziproke Verweise hervorgehoben werden. Die verbreitete Auffassung von kompetitivem Erinnern, bei dem es (vermeintlich) Gewinner*innen
und Verlierer*innen gibt, soll mittels dieses Ansatzes überwunden werden.
Das Multidirektionale wird in „Erinnern stören“ konsequent umgesetzt, vor allem durch das Aufspüren geteilter Gefühle. Damit versuchen die Autor*innen individuelle Erfahrungen weder zu
hierarchisieren noch gleichzusetzen. Das multidirektionale Erinnern und der Blick auf ähnliche Gefühlswelten werden vielmehr als Chance begriffen, Anerkennung, Empathie und Solidarität zwischen
Menschen mit unterschiedlichen Erinnerungen zu schaffen.
Der Sammelband ist weder chronologisch noch thematisch organisiert, jeder Beitrag hebt andere Akteurinnen und Akteure, Ereignisse und Orte hervor. Hinter der „migrantischen und jüdischen
Perspektive“ verbergen sich so sehr unterschiedliche Sozialisationserfahrungen, Lebensräume und Biografien. Zugleich muss „migrantisch“ als Überbegriff keineswegs auf alle zutreffen, die sich von
Erinnerungspolitik ausgeschlossen fühlen. Es können sich zudem Kategorien überlappen, und Personen können sich mit mehreren Identitätsbezeichnungen wie „migrantisch“, „jüdisch“, „Schwarz“ oder
auch „ostdeutsch“ und „westdeutsch“ verbunden fühlen. Es geht nicht um Vollständigkeit, sondern um die Darstellung einer breiten Vielfalt migrantischer und jüdischer Perspektiven. Auf diese Weise
kreieren die Herausgebenden eine Art Mosaik der Erinnerungen: Die Geschichte ehemaliger türkischer Gastarbeiter*innen und ihrer Nachfahren in der BRD steht neben den Erfahrungen von
Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik, Kuba oder Vietnam, die in der DDR lebten. Erfahrungen von Sinti*zze und Rom*nja werden ebenso erzählt wie die Geschichten von politisch Geflüchteten und
internationalen Studierenden in der DDR. Auch eine jüdische Perspektive vereint jüngere und ältere Generationen, Perspektiven aus Ost und West sowie die Sicht der sogenannten
Kontingentflüchtlinge, die aus den sowjetischen Nachfolgestaaten nach Deutschland kamen.
1989/90 postmigrantisch
Eine weitere Grundlage des Sammelbands stellt die Analysekategorie des „Postmigrantischen“ dar. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Forschende der Geistes- und Sozialwissenschaften mit
dem Begriff auseinandergesetzt. Am stärksten wurde er wohl von Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung, weiterentwickelt. Der Präfix post impliziert hier eine Auflösung der
trennenden Dichotomie von eigen und fremd und begreift Migration als Teil der gesellschaftlichen Identität. Postmigrantische Gesellschaften seien, so Foroutan, dadurch charakterisiert, dass sie
sich mit Aushandlungsprozessen um Gleichheit und Partizipation sowie mit Identitätsbildung beschäftigen – Fragen, die aus der Anerkennung eines Landes als Einwanderungsland entstehen (23) Eine
postmigrantische Perspektive untersucht demnach jegliche „Veränderungen von Sichtbarkeiten, Positionen und Privilegien“ in von Migration geprägten Gesellschaften (24).
Die Herausgebenden von „Erinnern stören“ deuten 1989/90 als „Geburtsmoment des Postmigrantischen“ (25). Sie verbinden den Begriff eng mit einer neuen selbstbewussten und kritischen Haltung von
Eingewanderten und deren Nachkommen gegenüber den Erwartungen ihrer Herkunftsländer sowie der deutschen Gesellschaft, bestimmten nationalen und kulturellen Identitäten zu entsprechen.
Dieses Verständnis des Postmigrantischen wird im Buch vor allem in den Texten sichtbar, die sich mit migrantischer Selbstorganisation und Selbstbehauptung beschäftigen. Damit einher geht das
Anliegen, die deutsche Erinnerungskultur durch die Einbeziehung migrantischer Perspektiven neu auszuhandeln und gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsprozesse zu dekonstruieren. In Bezug
auf die Frage nach der kollektiven Identität plädiert „Erinnern stören“ ähnlich wie Plampers „Das neue Wir“ für eine „Gesellschaft der Vielen“, in der nationale, ethnische und religiöse
Herkunftsmerkmale nicht mehr als strenge Zugehörigkeitskriterien gelten. Das postmigrantische Paradigma und multidirektionales Erinnern bestimmen so nicht nur den Zugang der Autor*innen zu
Geschichte, sondern sie dienen auch als Richtlinie und Weg, um die Zukunftsvision einer gerechteren Gesellschaft zu erreichen.
1989/90 – eine doppelte Zäsur
Der Untertitel des Buches („Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“) verweist auf den Mauerfall am 9. November 1989 als prominenten Erinnerungsort. Das Ereignis dient als
verbindender Bezugspunkt zwischen den Erinnerungswelten und ist Ausgangspunkt der meisten Texte. Allerdings wird im Buch aus unterschiedlichen, zum Teil neuen Perspektiven auf dieses Datum
geblickt und damit neues Wissen zur Verfügung gestellt. So wird der Mauerfall beispielsweise ausgehend von der Geschichte der türkischen Community in Berlin-Kreuzberg erzählt, die ihn „direkt vor
der Haustür“ erlebte. Die Interviews zeigen auf, dass viele, trotz ihrer Freude „mit und für die Deutschen“, in der Nacht des Mauerfalls bereits das Gefühl hatten, bei dieser Feier nicht
willkommen zu sein. Die Erinnerung an die Zeit nach dem Mauerfall ist in der türkischen Community zunächst von einer positiven und hoffnungsvollen Stimmung geprägt. Doch diese wurde durch die
rasch folgenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und zunehmende Ausgrenzungserfahrungen bald getrübt (26). Die Erfahrungen der türkischstämmigen Berliner*innen in dieser Zeit erzählt im Übrigen
eindrücklich auch der Dokumentarfilm „Duvalar – Mauern – Walls“ von Can Candan.
Ein anderes Thema, das im Buch aufgegriffen wird, ist das Problem der Überschreibung und die Befürchtung, dass der Mauerfall als ein Feiertag die bis dato andere Deutung des 9. Novembers als
Erinnerung an die Reichspogromnacht von 1938 ablöst. Aus zeitgenössischer Perspektive erzählen Jüdinnen und Juden, dass sie das starke Nationalgefühl in der Nacht des Mauerfalls auch als
bedrohlich wahrnahmen und sie sich um die Verdrängung der Erinnerung an den Holocaust sorgten. Die Journalistin Sharon Adler spricht von einem „Affront“, denn den 9. November verband sie ganz
wesentlich mit dem Beginn von „Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa“ (28).
Die Verbindung der verschiedenen Wahrnehmungen, Deutungen und Erinnerungen an den Mauerfall schaffen in „Erinnern stören“ so einen ambivalenten Erinnerungsort. Der Mauerfall wird zu einer
Chiffre, die für eine doppelte Zäsur steht: Einerseits markiert sie einen Wendepunkt, da sich nach dem Mauerfall Erfahrungen mit Rassismus und Gewalt häuften und migrantisches und jüdisches Leben
destabilisiert wurde. Andererseits steht das Datum für die Verdrängung migrantisch und jüdisch situierten Wissens vor 1989 sowie für eine Unterbrechung der Erinnerungen an Rassismus- und
Antisemitismuserfahrungen, aber auch an migrantische Bürgerrechtsbewegungen, die sich in den 1980er Jahren etabliert hatten.
Auf dem Weg zu einer pluralistischen Erinnerung
Die Ereignisse von 1989/90 sind in dem Buch in längere zeitliche Perspektiven eingebettet. Dadurch erzählt der Band auch von der Vorgeschichte der „Baseballschlägerjahre“ und dekonstruiert die
Annahme, dass rassistische Anschläge und Übergriffe ausschließlich ein Phänomen der 1990er Jahre gewesen seien. Zugleich wird 1989/90 durchaus als Einschnitt dargestellt, denn das Ausmaß rechter
Gewalt spitzte sich in der Nachwendezeit dramatisch zu.
Retrospektiv kritisieren die Autor*innen auch den damaligen Umgang mit rassistischer Gewalt. Sie sprechen von einem „Versagen der Politik“ und problematisieren eine Berichterstattung, die
rechtsextreme und rassistische Gewalt auf jugendliche, subkulturelle Auseinandersetzungen reduzierte. Sie verweisen auch auf die damals schweigende Mehrheit, deren Solidaritätsbekundungen und
Positionierungen gegen Rassismus, wie sie sich beispielsweise in den Lichterketten-Demonstrationen zeigte, „lange auf sich warten“ ließen (29). Vor allem jedoch betonen die Autor*innen
strukturelle Probleme wie ungenügenden polizeilichen Schutz oder das Ignorieren von Rassismus als Tatmotiv durch die Ermittlungsbehörden. Entlang dieser Aspekte zeigen die Autor*innen die Linien
auf, die von den „Baseballschlägerjahren“ bis in die Gegenwart reichen: eine unzureichende gesellschaftliche und politische Aufarbeitung von rechter und rassistischer Gewalt in den 1990ern sowie
eine fortgesetzte Tendenz zur Täter-Opfer-Umkehr. Hier ist das Buch zutiefst gegenwartsbezogen und politisch, und die Autor*innen fordern eine Veränderung dieses Zustands.
Zugleich fordern sie eine (neue) Sichtbarmachung von Erinnerungen an migrantische Widerstands- und Solidaritätsbewegungen, die nach der „Wende“ in Vergessenheit geraten sind. Hinter Überschriften
wie „Die kanakisch-queere Eroberung der Straße“, „Hoch die internationale Solidarität“ und „30 Jahre Migrantifa“ verbergen sich Erzählungen von politischer Selbstbehauptung und dem Kampf um
gleiche Rechte. Die Beiträge erzählen auch hier in einer langen zeitlichen Perspektive. So geht es zum Beispiel um die Geschichte ehemaliger sog. Gastarbeiter*innen in den 1960er und 1970er
Jahren in Westdeutschland und um ihre aktivistischen Anfänge in Form von Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen Streiks. Nach 1989/90 veränderte sich auch ihre Situation: Während in den 1970er und
1980er Jahren größere Netzwerke (Arbeiter- und Kulturvereine oder Gewerkschaften) Raum für politische Aktivität boten, dominierten in den 1990er Jahren zunehmend selbstorganisierte migrantische
Initiativen und ihr Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus.
Durch die Sichtbarmachung dieser verschiedenen Widerstandskämpfe und ihrer Geschichten wird in „Erinnern stören“ die Opferperspektive bzw. „Objektifizierung“ von Migrant*innen umgekehrt. Sie
werden zu politisch agierenden Subjekten, und die bestärkende, identitätsstiftende Wirkung ihrer aktivistischen Tätigkeiten wird betont. Im Fokus stehen so nicht Forderungen an Migrant*innen,
sondern die Forderungen von ihnen. So betont etwa auch Max Czollek in einem Gespräch über die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, dass es keine nachhaltige Lösung für Jüdinnen und Juden in
Deutschland sei, lediglich Sicherheitsmaßnahmen, etwa polizeilichen Schutz, vor Synagogen auszubauen. Was es brauche, sei vielmehr eine grundlegende Umstrukturierung der Gesellschaft, in der man
„ohne Angst verschieden sein“ kann (30). Ausgrenzungserfahrungen und rassistische Gewalt einerseits und migrantische Selbstorganisierung und Erfahrungen des Widerstands andererseits bilden so die
Konturen des hier entworfenen „Erinnerungsortes 89/90“.
Erinnern in einer „Gesellschaft der Vielen“
Welche Auswirkungen haben die im Sammelband vorgestellten Narrative auf unsere Erinnerung an die deutsche Wiedervereinigung? Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass es Lierke und Perinelli
nicht allein um eine Ergänzung bestehender Narrative geht. Vielmehr setzen sie sich für einen grundlegenden gesellschaftlichen Paradigmenwechsel ein (31). Das vorherrschende Narrativ von 1989/90
als Erfolgsgeschichte funktioniere nur über eine Unsichtbarmachung migrantischer Perspektiven. Genau da setze das „Störmoment“ des Buches an, indem es auf eine radikale Sichtbarmachung
(post-)migrantischer und jüdischer Perspektiven sowie der Perspektiven von Sinti*zze und Rom*nja zielt.
Vor diesem Hintergrund verstehen Lierke und Perinelli Erinnern als eine „politische Praxis“, die es ermöglicht, „über persönliche Geschichten Gemeinsamkeiten ausfindig zu machen und in
strukturelle Verhältnisse zu überführen“ (32). Erinnern wird hier eng mit der Suche nach einer pluralistischen kollektiven Identität verknüpft. Bisher habe das im Zuge der deutschen Einheit
entstandene „deutsch-deutsche Selbstverständnis“ vor allem „immer auf dem Ethnischen beruht“ und das Migrantische ausgeschlossen (33). Durch den multidirektionalen Ansatz wird versucht, Allianzen
zwischen Ost- und Westdeutschen mit und ohne Migrationsgeschichte sowie zwischen jüdischen und migrantischen Standpunkten näher zu kommen und Antagonismen und Konkurrenzen aufzulösen. Im Sinne
einer postmigrantischen Gesellschaft solle in Zukunft Gemeinsames statt Trennendes gestärkt werden. „Erinnern stören“ liest sich so als Plädoyer für eine „Gesellschaft der Vielen“, deren
Erinnerung genauso divers und pluralistisch ist wie sie selbst.
Fazit
Es mag so wirken, als ob das Buch ein neues schwarz-weiß-Bild der Erinnerung an 1989/90 zeichnet. Doch das ist nicht der Fall, im Gegenteil: Die Einbeziehung von Erinnerungen an Rassismus und
Ausgrenzung bedeutet nicht, dass nicht auch an die positiven Folgen von Friedlicher Revolution und „Wende“ erinnert werden kann. Diese Phase der deutschen Zeitgeschichte jedoch als reine
„Erfolgsgeschichte“ zu erzählen, wird vor dem Hintergrund der hier aufgerufenen Perspektiven fragwürdig und unplausibel.
Wenn wir uns heute als eine postmigrantische Gesellschaft der Vielen begreifen wollen, muss auch der Erinnerungsort 1989/90 vielfältiger und inklusiver gestaltet werden. Dabei geht es nicht nur,
wie Hannah Peaceman es in ihrem Beitrag auf den Punkt bringt, um ein Nebeneinanderstellen der Perspektiven. Vielmehr müsse es „um Verknüpfungen gehen, um Aushandlung von Widersprüchen und
Herstellen von Bezügen aufeinander“ (34). Geht man von diesem Ziel aus, ist der Aushandlungsprozess um „89/90“ noch keinesfalls abgeschlossen.
Was sagt eine Publikation wie „Erinnern stören“ nun über den Stand unserer Erinnerung im Jahr 2021, mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall, aus? Das Buch und die anderen, oben genannten Beispiele
zeigen: Migrantische und jüdische Perspektiven werden sichtbarer sowohl im öffentlichen Raum als auch in Forschung (35) und Popkultur. Doch das Projekt „Erinnern stören“ zeigt auch, dass dieser
Prozess noch am Anfang steht. Auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist zwar von einem „großen Echo in der Medienlandschaft“ die Rede, doch die Auflistung der Zeitungsartikel und
Radiobeiträge zu „Erinnern stören“ zeigt, dass das Buch noch nicht von einem besonders breiten Publikum rezipiert wurde. Dies offenbart auch die offizielle, staatlich geförderte Geschichtskultur:
In Reden, Jubiläumsfeiern, zu Gedenktagen oder in Bildungsplänen sind migrantische und jüdische Perspektiven keineswegs selbstverständlicher Bestandteil. Können wir, solange am 9. November
hauptsächlich an Mauerfall und „Friedliche Revolution“ erinnert wird, dieses Datum weiterhin unkritisch feiern? Wen meint eigentlich dieses „Wir“ in der Erinnerung und kann man überhaupt schon
von einer pluralistischen Erinnerungskultur sprechen? Auch ist zu diskutieren, warum die hier dargestellten Perspektiven in der sog. „Mehrheitsgesellschaft” immer noch umstritten sind und
vielfach abgewehrt werden.
Gleichzeitig hat die Entwicklung in den letzten Jahren gezeigt, wie öffentliche Debatten, gegenwärtige Diskurse, aber auch Medien der populären Geschichtskultur die offiziellen
Geschichtsnarrative beeinflussen und verändern können. Heute sind migrantische Perspektiven auf 1989/90 zwar bei weitem noch nicht fest in der offiziellen Erinnerungskultur verankert, doch können
populäre Publikationen und Projekte, wie sie hier vorgestellt wurden, ein Anstoß in eine diese Richtung geben. Die Unterschiede im Erinnern an 1989/90 zwischen dem 20. und dem 30. Jubiläum zeigen
diese Veränderlichkeit. Vielleicht – es ist zu wünschen – sind beim 40. Jubiläum im Jahr 2029 die Geschichten der Vielen Teil einer neuen Geschichte.
Fußnoten
(1) Vgl. Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: Geschichte in populären Medien und Genres. Vom Historischen Roman zum Computerspiel, in: Dies. (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009, S. 9-60.
(2) Vgl. Handro, Saskia: Arbeit am kollektiven Gedächtnis. 1989 in Schulgeschichtsbüchern, in: Handro, Saskia; Schaarschmidt, Thomas (Hg.): Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs (Reihe Politik und Bildung, 65), Schwalbach 2011, S. 84-107, hier: S. 87.
(3) Eine Analyse des Jubiläumsjahres 2009 findet sich z.B. bei: Klinge, Sebastian: 1989 und wir. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall, Bielefeld 2015.
(4) Vgl. Bangel, Christian: Baseballschlägerjahre, in: DIE ZEIT Nr. 46, 7. November 2019; Hendrik Bolz: „Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf“, in: Der Freitag, 41/2019, 28. Oktober 2019.
(5) Dokumentationsreihe „Baseballschlägerjahre“ (2020).
(6) Dokuserie Baseballschlägerjahre, ARD-Mediathek.
(7) Webseite "zweiteroktober90".
(8) Bild bei Wiki-Commons
(9) Vgl. Plamper, Jan: Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt a. M. 2019, S. 204.
(10) Vgl. ebd., S. 17.
(11) Vgl. Alexopoulou, Maria: Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Stuttgart 2020, S. 10, S. 233.
(12) Vgl. ebd. S. 10.
(13) Diskussion mit Tarik Tesfu, Olivia Wenzel und Jackie Thomae, 50:30/59:50 min.
(14) Ausstellungsvorstellung "Labor 89", FHXB.
(15) Vgl. Piesche, Peggy (Hg.): Labor89: Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost, Berlin 2019, S. 6.
(16) Onlineausstellung "Anderen wurde es schwindelig".
(17) Web-Dossier "Erinnern stören", Rosa-Luxemburg-Stiftung.
(18) Lierke, Lydia; Perinelli, Massimo: Intro, in: Dies. (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020, S. 16.
(19) Vgl. ebd., S.17.
(20) Vgl. Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, Schwalbach 2008, S. 160.
(21) z.B. Rothberg, Michael; Zimmerer, Jürgen: Enttabuisiert den
Vergleich, DIE ZEIT Nr. 14, 31. März 2021 und Schmid, Thomas: Der
Holocaust war kein Kolonialverbrechen, DIE ZEIT Nr. 15, 8. April 2021.
(22) Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2019.
(23) Vgl. Foroutan, Naika: Die postmigrantische Gesellschaft, Bielefeld
2019, S. 19
(24) Vgl. Canan, Coşkun; Foroutan, Naika: Deutschland postmigrantisch III. Migrantische Perspektiven auf deutsche Identitäten – Einstellungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund zu
nationaler Identität in Deutschland, Berlin 2016, S. 14.
(25) Lierke; Perinelli: Intro, S. 12.
(26) Vgl. aus „Erinnern stören“: König, Jana; Steffen, Elisabeth: Erinnern heißt stören. Die Dokumentarfilme „Duvarlar – Mauern – Walls“ und „Mauern 2.0“ auf den Spuren von Rassismus, migrantischem Wissen und Widerstand, S. 133-157 und Weltz-Rombach, Alexandra; Egilmez, Gülriz: „Mit offenem Blick/ Açık bakışla. Migrantische Perspektiven zur Erinnerungskultur des Mauerfalls und der Wendezeit“, S. 157-189.
(27) Der Film ist zugänglich über die Website der Bundeszentrale für politische Bildung.
(28) Vgl. Adler, Sharon: Kontinuitäten der Erinnerungskultur deutsch-jüdischer Zeitgeschichte. Sechs Gespräche, in: Erinnern stören, S. 359-405, hier: S. 361.
(29) Vgl. König; Steffen: Erinnern heißt Stören, in: Erinnern stören, S. 138.
(30) Vgl. Axster, Felix; Berek, Mathias: Zwischen Postnazismus und Post-Migration, in: Erinnern stören, S. 31-67, hier: S. 58.
(31) Vgl. Lierke; Perinelli: Intro, S.
12.
(32) Vgl. ebd., S. 17.
(33) Vgl. Weltz-Rombach; Egilmez: Migrantische Perspektiven zur Erinnerungskultur, in: Erinnern stören, S. 184.
(34) Vgl. Axster, Felix; Berek, Mathias: Zwischen Postnazismus und Post-Migration, in: Erinnern stören, S. 47.
(35) Zum Beispiel: Pawlowitsch, Claudia; Wetschel, Nick: Was tun, wenn man nicht zum ‚Volk’ gehört. ’89 und die An-/Abwesenheit von Vertragsarbeiter*innen, in: Leistner, Alexander/Wohlrab Sahr, Monika (Hg.): Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs, Köln/Weimar/Wien 2021 (im Erscheinen).
Literatur
Alexopoulou, Maria: Deutschland und die
Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Stuttgart 2020.
Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens,
Schwalbach 2008.
Brückweh, Kerstin; Villinger, Clemens; Zöller, Kathrin (Hg.): Dir lange Geschichte der ‚Wende‘. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.
Canan, Coşkun; Foroutan, Naika: Deutschland postmigrantisch III. Migrantische Perspektiven
auf deutsche Identitäten – Einstellungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund zu
nationaler Identität in Deutschland, Berlin 2016.
Foroutan, Naika: Die postmigrantische Gesellschaft, Bielefeld 2019.
Großbölting, Thomas: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90, Bonn 2020.
Handro, Saskia; Schaarschmidt, Thomas (Hg.): Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im
geschichtskulturellen Diskurs (Reihe Politik und Bildung, 65), Schwalbach 2011.
Klinge, Sebastian: 1989 und wir. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall, Bielefeld 2015.
Korte, Barbara; Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009.
Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.
Lierke, Lydia; Perinelli, Massimo (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020.
Mau, Steffen: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019.
Piesche, Peggy (Hg.): Labor89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost, Berlin 2019.
Plamper, Jan: Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt a. M. 2019.
Präkels, Manja: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, Berlin 2019.
Richter, Peter: 89/90, München 2015.
Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of
Decolonization, Stanford 2019.
Sila, Tijan: Tierchen unlimited, Köln 2017.
Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst, Berlin 2020.
Weyhe, Birgit: Madgermanes, Berlin 2016.