Erinnerungskultur darf sich nicht nur auf die Mehrheitsgesellschaft beziehen, so Peggy Piesche, eine aus der DDR stammende Schwarze Kulturwissenschaftlerin und Aktivistin. Mit dieser Aussage schließt Piesche an die jüngeren öffentlichen Debatten an, in denen es darum geht, wer sich im Zuge der deutschen Einheit eigentlich vereinigt hat und wer ausgeschlossen blieb. Nachdem diese Fragen im öffentlichen Diskurs lange keine Rolle spielten, findet in den letzten Jahren gerade auch in der Literatur eine Auseinandersetzung mit dieser erinnerungskulturellen Lücke statt.
Die Bücher geben dabei bspw. einen Einblick in das Leben von Vertragsarbeiter*innen in der DDR, die aus Vietnam, Mosambique oder Kuba kamen und die mit dem Untergang des Landes quasi über Nacht ihren Aufenthaltsstatus verloren.
Andere Texte erzählen davon, wie man sich als Migrant*in und/oder Schwarze Person in der DDR (einer vergleichsweise homogenen Gesellschaft) zurechtfinden musste. Sie erzählen von Alltagsrassismus und Diskriminierung sowie von der Zunahme der Gewalt in den 1990er Jahren.
Zugleich lassen sich die Texte dieser Kategorie nicht auf Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt reduzieren. Vielmehr begegnen uns ganz unterschiedliche Zugänge, Fragen und Verortungen in Vergangenheit und Gegenwart. So ist etwa die Suche nach oder der Umgang mit jüdischer Identität mal mehr, mal weniger stark mit den Erfahrungen in der DDR verknüpft. Auch Migrationsgeschichten können ganz unterschiedlich perspektiviert sein: So ist der Umzug von Istanbul in das mauerlose Berlin der Nachwendezeit in einem Buch eine Rückkehr in die Vergangenheit und an den Ort der Kindheit. In einem anderen erscheint der Umzug aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin als das Versprechen eines Neuanfangs und einer besseren Zukunft.
Birgit Weyhe: Madgermanes
Avant: Berlin, 2016
Rezension
"Schuften für den Bruderstaat" im Fluter vom 16.8.2016
Passt auch in die Kategorie Wendebrüche.
Mirna Funk: Zwischen Du und Ich
DTV: München, 2021
Rezension "Die eigenen Wunden und die der Ahnen" in der Frankfurter Rundschau vom 23.2.2021
Passt auch in die Kategorie Weibliche Perspektiven.
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten
Jung und Jung: Salzburg/Wien, 2013
Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher
Passt auch in die Kategorien Weibliche Perspektiven und 89/90 Global.
»Durch die Glasscheibe kann man ins Foyer blicken: die weißen Wände sind leer bis auf ein Wappen, mit leuchtendem Slogan: What the fuck is Heimat?«
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten, S. 266
Dimitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Karl Hanser: München, 2021
Rezension "Zum Heulen witzig" im Neuen Deutschland vom 13.3.2021
Passt auch in die Kategorie Familiengeschichten.
»Vor einer Weile beschloss ich also, endlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Auf einer von sibirischen Katzen vollgepissten Treppe hockend. In die Märzsonne blinzelnd, existenzielles Mittelfeld, etwas verlassen vielleicht. An jenem Tag auf der Treppe eröffnete ich mir selbst, dass es nun so weit sei. Zeit, den offiziellen deutschen Stempel zu holen, den mir die Jahre längst aufgedrückt hatten. Wie kompliziert konnte das schon sein, bei meinem Werdegang? 1994 im Alter von acht Jahren immigriert, deutsch eingeschult, sozialisiert, studiert. Berufstätig, steuerpünktlich, verfassungspatriotisch.«
Dimitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew, S. 8
May Ayim: grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit. (1990)
Erschienen in: blues in schwarz-weiß. Orlanda: Berlin, 1995
Den Text findet ihr unten. Das Gedicht vorgetragen von der Autorin findet ihr hier.
May Ayim: grenzenlos und unverschämt. ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit.
ich werde trotzdem
afrikanisch
sein
auch wenn ihr
mich gerne
deutsch
haben wollt
und werde trotzdem
deutsch sein
auch wenn euch
meine schwärze
nicht paßt
ich werde
noch einen schritt weitergehen
bis an den äußersten rand
wo meine schwestern sind
wo meine brüder stehen
wo
unsere
FREIHEIT
beginnt
ich werde
noch einen schritt weitergehen und
noch einen schritt
weiter
und wiederkehren
wann
ich will
wenn
ich will
grenzenlos und unverschämt
bleiben
May Ayim
Lydia Lierke & Massimo Perinelli (Hg.): Erinnern stören.
Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive
Verbrecher Verlag: Berlin, 2020
Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher
Die Herausgeber*innen des Buches im Gespräch beim "taz Talk"
Alle Texte des Sammelbandes bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Karin Kalisa: Sungs Laden
C.H. Beck: München, 2015
Rezension "Wie sich das Gute in Berlin ausbreitet" im Spiegel vom 10.12.2015
Passt auch in die Kategorie Familiengeschichten.
O. Wenzel: 1000 Serpentinen Angst, M. Funk: Winternähe, J. Thomae: Brüder, P. Beatty: Slumberland
Yadé Kara: Selam Berlin
Diogenes: Zürich, 2003
Rezension im Deutschlandfunk vom 6.5.2003
Passt auch in die Kategorie Familiengeschichten.
»Im Vergleich zu Istanbul war Berlin ein Kaff. Aber es war ein überschaubares Kaff, mit einer Mauer drum herum. Ich mochte es. Istanbul war total aufgedreht. Berlin auch, aber anders. Alles war übersichtlicher und ruhiger. Die Geschäfte schlossen um achtzehn Uhr, die Busse waren pünktlich, und die Leute ignorierten sich gegenseitig und ließen sich in Ruhe. Das war OK für mich. Vieles lief nach Routine und Plan. Ich fühlte mich sicherer und gelassener als in Istanbul.«
Yade Kara: Selam Berlin, S. 11f.
Hussein Jinah (mit Sebastian Christ):
Als Weltbürger zu Hause in Sachsen
Mikrotext: Berlin, 2019
Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher
Der Autor im Gespräch "Das Gefühl, immer Gast zu sein" im Spiegel vom 17.3.2019
May Ayim: Das Jahr 1990. Heimat und Einheit aus afro-deutscher Perspektive
Erschienen in: Grenzenlos und unverschämt. Orlanda: Berlin, 1997
Eine Vorstellung von Leben, Wirken und Werk May Ayims beim Digitalen Deutschen Frauenarchiv
Lauré Al-Samarai, Peggy Piesche (Hg.): Labor 89.
Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost
Yilmaz-Günay: Berlin, 2020
Vorstellung und Einordnung beim Online-Portal Lernen aus der Geschichte
Passt auch in die Kategorien Queer im Osten und Weibliche Perspektiven.
Andre Herzberg: Alle Nähe fern
Ullstein: Berlin, 2015
Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher
Passt auch in die Kategorien Familiengeschichten und Coming of Age.
»Die Welt da draußen tobt weiter, ich höre lieber in die Stille, die in meinem Zimmer ist. Die Therapeutin sagt, Sie lebten in einer Diktatur, ich bin empört. Als ich über mich als Juden spreche, von Gott rede, sagt sie, Sie müssen woanders hin.«
Andre Herzberg: Alle Nähe fern, S. 241
Audre Lorde: Ost Berlin im Dezember 1989 (1989)
Erschienen in: Hügel/Lange/Ayim u.a. (Hg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Orlanda: Berlin, 1993
Audre Lorde liest des Gedicht 1992 in Berlin (Englisch)
Mehr Informationen zu "Audre Lorde in Berlin" in der gleichnamigen Online-Ausstellung