Wendebrüche


Leipzig im Frühjahr 1990, Wahlkampf. Der Sieg der "Allianz für Deutschland" aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch war eine zentrale Weichenstellung in Richtung deutsche Einheit. Foto: Maria Notbohm
Leipzig im Frühjahr 1990, Wahlkampf. Der Sieg der "Allianz für Deutschland" aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch war eine zentrale Weichenstellung in Richtung deutsche Einheit. Foto: Maria Notbohm

Ohne Zweifel war das massenhafte Aufbegehren gegen den Staat 1989 wie auch seine rasche Abwicklung ab 1990 ein massiver Bruch für die meisten der, nun ehemaligen, DDR-Bürger*innen. Einen Bruch markierten insbesondere die schlagartigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die mit dem Beitritt zur Bundesrepublik einhergingen. Gleichzeitig ist das individuelle Erleben dieser Brüche durchaus vielfältig. Ihre oft auch erst mittel- oder langfristige Verarbeitung spiegelt sich gerade in der Literatur in ihrer ganzen Bandbreite.

 

Ein zentrales Thema vor allem der früheren Texte ist die Auseinandersetzung mit dem plötzlichen Verschwinden der vertrauten Gesellschaftsordnung. Viele der Autor*innen standen ihr keineswegs unkritisch gegenüber. Ihr Verlust bedeutete jedoch gleichzeitig den Verlust einer Utopie und in fast allen Fällen das Verschwinden von Gewohntem, Vertrautem und Selbstverständlichem. Ein anderes wichtiges Thema ist die Erkundung von ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Unsicherheiten und Existenzängsten in der Wende- und Nachwendezeit. Diese Suchbewegungen beziehen sich auf alle Lebensbereiche: Arbeiten, Wohnen, Lieben, die Erziehung von Kindern und nicht zuletzt auf die Sinn-Frage: Wo stehen wir? Wohin gehen wir?


Helga Königsdorf: Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds

Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg, 1990

 

Die Autorin im Gespräch mit Günter Gaus, Mai 1994

 

 

»Was bleiben wird, sind wir, die Menschen in diesem Territorium. Ohne den Ort zu verändern, gehen wir in die Fremde. Heimat aufgeben kann eine lebenswichtige Operation sein. Doch immer, wenn das Wetter umschlägt, werden wir einander ansehen, lange noch, und diesen Schmerz empfinden, diese Vertrautheit, die keiner sonst versteht.«

 

Helga Königsdorf: Adieu DDR, S. 9


Christoph Hein: Willenbrock

Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2000

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

 

Das Buch wurde 2005 (R: Andreas Dresen) unter selbem Titel verfilmt, siehe hier ein Trailer.

 

 

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000

btb: München, 2005

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

»Während ich weiter in meinem Kalender blättere, begreife ich: Dieses Jahr [1990, die Red.] ist nicht ein, es ist das Wendejahr. Als sei ihm eine Achse eingezogen, um die herum die Zeit sich ›wendet‹. Nun liegt unten, was vorher ›oben‹, also sichtbar war, und das – uns – bisher Unsichtbare liegt obenauf.«

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr, S. 458f.


Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land

Volk & Welt: Berlin, 1993

 

Der Text wurde in einer Inszenierung unter der Regie von Einar Schleef 1993 am Berliner Ensemble uraufgeführt. 

 

Ein WDR-"Zeitzeichen" vom 10.2.2018 zu dieser Aufführung 

Daniela Krien: Muldental

Ullstein: Berlin, 2014

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

 

Passt auch in die Kategorie Weibliche Perspektiven.

»Sie leugnete nichts. Sechs Jahre lang hatte sie jeden Monat einen pünktlichen und anfangs belanglosen Bericht an die Staatssicherheit geschickt. Thomas wusste Bescheid, ihm hatte sie sich bereits Monate vorher anvertraut. Wenn es einmal herauskommt, hatte sie zu ihm gesagt, musst du wissen, dass ich es nur tat, um dich zu schützen.

Aber Hans wollte nichts hören. Nichts von der Angst um den Sohn, nichts von der Einschüchterung, nichts von ihrer Verzweiflung, als man ihr die Belanglosigkeit ihrer Berichte vorwarf und sie zwang, konkreter zu werden. Nichts von ihren quälenden Schuldgefühlen. Keine Entschuldigungen und keine Bitten um Vergebung.«

 

Daniela Krien: Muldental, S. 24


Christa Wolf: Was bleibt

Aufbau: Berlin, 1990

 

Eine Debattenübersicht "Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. Ein Rückblick aus dem Jahr 1996" auf literaturkritik.de

 


B. Burmeister: Unter dem Namen Norma, J. Bisky: Geboren am 13. August, B. Weyhe: Madgermanes, P. Hofmann: Die letzte Sau, E. Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts, R. Ide: Geteilte Träume, S. Rennefanz: Eisenkinder, C. Meyer: Als wir träumten, B. Meinhardt: Brüder und Schwestern, J. Schalansky: Der Hals der Giraffe


Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen

Kiepenheuer & Witsch: Köln, 1995

 

Rezension "Nun plätschert es wieder" in der FAZ vom 14.12.1995

 

"Die Subversion des Wortspiels" - eine Würdigung des Autors zum 50. Geburtstag auf literaturkritik.de

 

Das Buch wurde früh fürs Theater adaptiert, z.B. auf der Studiobühne des Maxim-Gorki-Theaters 1969 (R: Oliver Reese). Siehe auch der Trailer zur Verfilmung des Buches von 2001 (R: Peter Timm).

 

»Ohne auch nur den Fuß vor die Tür zu setzen, hatte ich mein altes Heimatland verlassen (bzw. – es mich). [...] Sogar die Postanschrift hatte sich von heute auf morgen geändert. Ich hatte eines Morgens mit Freitag [dem Hund, die Red.] die kleine Runde gemacht; irgendetwas war anders als sonst. Da bemerkte ich: heimlich, über Nacht sozusagen, waren wir aus unserer Straße umgezogen worden. Sie trug jetzt einen anderen Namen.«

 

Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen, S. 38


Christoph Hein: Frau Paula Trousseau

Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2007

 

Rezension "Ein autoritäres Elternhaus und die Folgen" im Deutschlandfunk Kultur vom 2.4.2007

 

 

 

Volker Braun: Trotzdestonichts oder Der Wendehals 

Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1995

 

Ein Portrait des Autors in der SZ vom 6.5.2019 anlässlich seines 80. Geburstages und dem Erscheinen der Essay-Sammlung "Handstreiche" 

 

Felix Denk & Sven von Thülen: Der Klang der Familie.

Berlin, Techno und die Wende

Suhrkamp: Berlin, 2012

 

Rezension "Total geflasht in den Verfall" in der SZ vom 29.4.2012

 

Passt auch in die Kategorie West-Ost-West.

Ingo Schulze: Simple Storys

Berlin-Verlag: Berlin, 1998

 

Rezension "Glücksritter auf Tauchstation" im Spiegel vom 28.2.1998

 

Das Buch wurde mehrfach für Theaterinszenierungen adaptiert, so etwa 1998 in der Neuen Szene des Schauspiels Leipzig (R: Anna Langhoff).

 

»Erika wurde von einem Italiener eingestellt, der sein Glück mit einer Pizzeria in der Fabrikstraße versuchte. Im April 91 musste er schließen. Erika fand andere Gaststätten. Doch kaum war eröffnet, kaum waren einige Monate vergangen, machten sie wieder dicht. Viermal passierte ihr das. Schließlich stand sie in dem Ruf, ein Unglücksengel zu sein. Aber auch nicht lange, denn man sah ja, wie es insgesamt lief.« 

 

Ingo Schulze: Simple Storys, S. 29


Helga Königsdorf: Im Schatten des Regenbogens

Aufbau: Berlin, 1993

 

Diskussion und Lesung des Romans mit Helga Königsdorf, Martin Ahrends, Hajo Steinert und Hans-Jürgen Schmitt im Literarisches Colloquium Berlin im September 1993

 

Gregor Sander: Was gewesen wäre

Wallstein: Göttingen, 2014

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

 

Gregor Sander schrieb auch das Drehbuch für den gleichnamigen Film von 2019 (R: Florian Koerner von Gustorf).

Lukas Rietzschel: Raumfahrer

DTV: München, 2021

 

Rezension "Aufgewachsen in Ruinen" auf Deutschlandfunk Kultur vom 18.8.2021

 

Besprechung und Gespräch über "Ostdeutsche, die nie im Heute angekommen sind" auf mdr Kultur vom 23.7.2021

 

Passt auch in die Kategorien Familiengeschichten und Perspektiven auf & auf Provinz

 

»Nachkriegszeit und Nachwendezeit. Trümmer beseitigen. Nicht nur die Brocken und Steine eingestürzter Häuser. Nicht nur die Fundamente suchen und ihnen nachweinen. Gebäude ließen sich abtragen und aufbauen. Erinnerungen nicht. Schmerzen nicht. Ob tatsächlich empfunden oder eingebildet. Schmerzen wie Steine, weitergereicht in einer Menschenkette von Hand zu Hand, um sie abzuklopfen und eventuell wiederzuverwenden. [...] vielleicht gab es Parallelen, die sich in dem Wort Danach verbargen. Nachkriegszeit. Nachwendezeit. Und all die Raumfahrer darin gefangen, kein Vor und kein Zurück.« 

Lukas Rietzschel: Raumfahrer, S. 270


Günter Grass: Ein weites Feld

Steidl: Göttingen, 1995

 

Rezension "Schwellkörper Deutschland" in der taz vom 26.8.1995

 

Rezension "...und es muss gesagt werden" im Spiegel vom 20.8.1995

Diskussion der zeitgenössischen Rezeption bei Zeitgeschichte-online von 2009 

 

Passt auch in die Kategorie West-Ost/Ost-West.

 

 

»Millionen Arbeiter und Angestellte sind einem Enthauptungsprozess unterworfen, dem zufolge zwar nicht der einzelne um einen Kopf kürzer gemacht wird, doch kappt das Fallbeil seinen Erwerb, seinen bis gestern noch sicheren Arbeitsplatz, ohne den er, jedenfalls hierzulande, kopflos ist.«

Günter Grass: Ein weites Feld, S. 626


Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck

Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1991

 

Eine Ortsbegehung mit dem Autor in Ribbeck 15 Jahre nach Entstehung der Erzählung im Tagesspiegel vom 12.10.2016

 

Das Werk wurde jüngst in einer szenischen Lesung am Theater im Palais Berlin (R: Annette Klare) auf die Bühne gebracht.

 

Passt auch in die Kategorie Provinz.

Valerie Schönian: Ostbewusstsein

Piper: München, 2020

 

"Mama, Papa, übrigens – ich bin jetzt wieder ostdeutsch!" - Die Autorin im Gespräch mit MDR Zeitreise

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

Monika Maron: Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989 bis 2009

Fischer: Frankfurt a.M., 2010

 

Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

 

 

»Sie wisse nun nicht mehr, wo sie stehe, sagt Hella, wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Geblieben sei ihr eine Abscheu vor jeglicher Ideologie, sagt sie, und das Wort Zukunft sei ihr inhaltslos geworden. Und dann, zweifelnd und hoffend: Aber irgendeinen Sozialismus müsste es doch geben, nicht diesen, diesen bestimmt nicht, aber einen. Was sollte ich darauf antworten?«

Monika Maron: Zwei Brüder, S. 32


Ingo Schulze: Neue Leben

Berlin Verlag: Berlin, 2005

 

Rezension "Cash hieß bar" auf literaturkritik.de

 

 

 

Stefan Heym: Auf Sand gebaut.
Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit

Bertelsmann: München, 1990

 

Eine kurze Einführung in das Werk der Internationalen Stefan Heym Gesellschaft

 

Interview mit dem Autor in der Neuen Zeit vom 7.4.1990

 

 

»Und all das wird sich ändern bei uns, sagt meine Elisabeth und hat dabei diesen Glanz im Auge: ihr Intershop-Blick, wie ich ihn nenne, der sich stets zeigt bei ihr, sobald sie den Shop betritt und die Auswahl an bunten Westwaren sieht, nur für harte Währung zu erwerben; aber jetzt braucht ja keiner den Shop mehr, jetzt geht man einfach nach drüben; nur mit der Währung ist es immer noch problematisch. Sehr ändern, sagt sie, und bei den Immobilien besonders, die werden ungeheuer steigen im Wert. Ich staune: Immobilien. Woher sie das Wort überhaupt kennt!«

 

Stefan Heym: Auf Sand gebaut, S. 34


Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin

Hanser Berlin: Berlin, 2019

 

Rezension "Berlin außerhalb der Ringbahn" in der taz vom 27.9.2019

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher

Wolfgang Hilbig: Das Provisorium

Fischer: Frankfurt a.M., 2000

 

Rezension im Deutschlandfunk vom 10.2.2000

 

Der Verlagstext und Rezensionsnotizen bei Perlentaucher


"89 goes Pop" ist Teil des BMBF-Verbundprojekt "Das umstrittene Erbe von 1989"

Weitere Informationen unter www.erbe89.de