Vom Ende der Geschichte zu den vielen Geschichten. 30 Jahre "89/90" in Pop und Punk
ein Beitrag von Jonas Brückner, Freiburg, 2020
Ist die ‚Friedliche Revolution’ eigentlich noch Konsens? Verstärkt ab dem 25-jährigen Jubiläum 2014 und im Zuge des jüngsten Gedenkens kaum noch überhörbar mehren
sich die Stimmen, die eine Erzählung vom Umbruch 1989/90 als eine reine Erfolgsgeschichte so nicht stehen lassen wollen. Neben, unter und jenseits der lange Zeit öffentlich dominierenden
Erzählung vom Mut des demokratischen und selbstbestimmten Aufbegehrens gegen den Autoritarismus des Staatssozialismus und dem Glücksfall der deutschen Wiedervereinigung gab und gibt es schon
immer Stimmen, die dieses Bild ergänzen und differenzieren. Populärkulturelle Werke waren dabei in den letzten 30 Jahren stets Ausdruck und Impulsgeber eines dynamischen Wandels in der Frage,
womit wir es mit ‚89/90’ und seinen Konsequenzen bis heute zu tun haben. Diese Entwicklung sei hier am Beispiel der Musikgeschichte betrachtet.
Lassen Sie uns zur Einstimmung mit einem ‚Wendelied’, wenn nicht gar dem Wendehit
beginnen: „Wind of Change“ [1] der Hannoverschen Rockgruppe Scorpions ist 1988 vor dem Hintergrund der Eindrücke von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion entstanden und avancierte nach
seiner Veröffentlichung Ende 1990 in der medialen Rezeption zur „Wendehymne“. Der Text des Liedes betont in erster Linie ein Gefühl von Veränderung in Richtung einer positiven, besseren Zukunft.
Der Charakter dieser Zukunft bleibt jenseits allgemeiner Erwartungen von Frieden und erfüllten Träumen freilich offen. Viel entscheidender ist aber die aus westlicher Sprecherperspektive
geäußerte Hoffnung auf eine vielversprechende gemeinsame Zukunft der Menschen in der BRD und der DDR und das gemeinsame Zelebrieren des „magic moment“ auf dem Weg dorthin. Im Sinne dieser im Lied
ausgedrückten gleichberechtigten Haltung kann seine große Popularität im Zeitraum seiner Veröffentlichung tatsächlich als Ausdruck geteilter ost-westdeutscher Freude verstanden werden. Dabei kann
man zugleich vermuten, dass die genauen Gründe für die Freude und die konkreten, damit verbundenen Zukunftshoffnungen individuell sehr unterschiedliche waren und sich in Ost und West deutlich
unterschieden haben dürften. Nicht zu vergessen diejenigen Menschen in Ost (und auch West), die aus ebenso verschiedenen Gründen damals schon nicht feierten. Sei es etwa, weil sie erstarkende
Großmachtambitionen des wiedervereinigten Deutschlands befürchteten oder erfolglos für einen ‚dritten Weg’ in einer reformierten DDR gestritten hatten.
Die allgemeine Ernüchterung in der nunmehr zu Ostdeutschland gewordenen DDR folgte bekanntlich auf dem Fuße. In ihrem 1991 erschienenen Lied „Erfurt & Gera“ [2]
beschreibt Nina Hagen den Unfalltod eines gerade wieder in den Ostteil des Landes Zurückgekehrten. Gespickt mit ironisch überspitzen Verweisen auf die Konsumversprechen des Westens lässt sich der
Text auch als eine Thematisierung der ersten Enttäuschungen ehemaliger DDR-Bürger*innen verstehen. Auch wenn Nina Hagen zu diesem Zeitpunkt schon länger nicht mehr in der DDR lebte, reiht sich
das Lied ein in andere Veröffentlichungen der (ehemaligen) Punksubkultur der DDR, in der schon früh die möglichen und realen negativen Folgen eines Beitritts des Landes zur Bundesrepublik
thematisiert wurden. So etwa von Feeling B in „Ich such die DDR“ [3] (1991) oder von Müllstation „Alte Schweine – Neue Welt“ [4] (1993).
Nach dieser eher unmittelbaren Thematisierung entstanden im weiteren Verlauf der
90er bis weit in die 00er Jahre hinein kaum neue Stücke, die sich explizit mit der DDR, mit Umbruchs- und Nachwendeerfahrungen auseinandersetzen. Dies mag damit zusammenhängen, dass viele der
älteren Ostdeutschen bald zu dem Ihnen bekannten Werk von Musiker*innen aus der DDR zurückkehren, es eventuell auch neu deuteten, ihren „alten“ Stars in jedem Fall aber erst einmal treu blieben.
Jüngere Ostdeutsche schienen wiederum damit beschäftigt gewesen, die musikalischen Einflüsse ‚des Westens’ aufzusaugen und sich damit bewusst von ihren Eltern abzugrenzen. Die
Mitte-zwanzig-jährige ostdeutsche Musikmacherin findet man Ende der 90er Jahre womöglich eher hinter Techno-Plattentellern als, sich auf der Gitarre begleitend, über das verschwundene Land ihrer
Kindheit dichten. Darüber hinaus wäre zu vermuten, dass der Transformationsschock der Nachwendezeit zunächst mit einer Sprachlosigkeit über diese Erfahrung und auch Fragen der eigenen Herkunft
einherging. In dieser Lesart dürfte es auch generationsübergreifend für viele Ostdeutsche viele Jahre gedauert haben, bevor der Systemwechsel, auch künstlerisch, verbalisiert werden
konnte.
In diesem Sinn eher untypisch erscheint Gerhard Gundermanns „Hier bin ich geboren“ [5] von 1995. Der Liedtext kann dabei verstanden werden als eine sowohl
(selbst-)entschuldigende, leise stolze Nostalgie wie auch (selbst-)kritische Reflexion auf Herkunft und Handeln in der DDR. Wobei auch klar ist: „Hier isses heute nicht besser als
gestern“.
Während solche mehr oder weniger expliziten Auseinandersetzung mit DDR-/ostdeutschen Erfahrungswelten zunächst die Ausnahme bleiben, lässt dich jedoch eine
Konjunktur von der Bearbeitung neuer, gesamtdeutscher Realitäten feststellen. Hier treten auch westdeutsch sozialisierte Musiker hervor, die sich vor allem kritisch mit einer "Einheitseuphorie"
auseinandersetzen. Die Ärzte machen sich etwa in „Hurra“ [6] (1995) genau darüber lustig. Bernd Begemann beschreibt in „Kein Glück im Osten“ [7] (1996) einstweilen erfolglose Versuche von
musikalischer Annäherung auf Tour in den neuen Bundesländern.
In diesem Zusammenhang relevant sind auch die musikalischen Antworten auf den sichtbaren Ausbruch neonazistischer und rassistischer Gewalt im ganzen
wiedervereinigten Deutschland Anfang der 90er Jahre. Diese wird in Songs von ost- wie westdeutschen Musikern, so z.B. Die Prinzen, Anarchist Academy, Die Goldenen Zitronen und Die Ärzte,
interessanterweise gerade nicht als typisch ost- oder westdeutsches Phänomen behandelt. Teile der Musik(sub)kultur setzten hier einen kritischen Schwerpunkt eher auf die historischen
Kontinuitäten rechten Denkens und rechter Gewalt in Deutschland generell anstatt auf die Differenz zwischen Ost und West.
Eine neue popkulturelle Thematisierung findet sich dann erst wieder ab Mitte der 00er
Jahre, so 2004 mit dem Stück „Wir sind Wir“ [8] von dem aus Eisenhüttenstadt stammenden Paul van Dyk und dem Hamburger Peter Heppner als Sänger. Der Liedtext stellt nichts geringeres als die
Frage nach deutscher Identität. 2004 sind Heppner und Dyk in dieser Frage wohl noch etwas unsicher, ist die Antwort doch eine Tautologie: Wer sind wir? Na „wir“. Jenseits dessen wird im
textlichen Abschreiten der deutschen Geschichte eine gesamtdeutsche Perspektive eingenommen, in der auch die sozialistische Utopie Erwähnung findet. Gleichwohl wird ihr Scheitern deutlich
gemacht, wobei der Mauerfall – im Musikvideo unterlegt durch einschlägige ikonographische Darstellungen – als glücklicher Schlusspunkt einer Fortschrittserzählung dargestellt wird. Das Lied
kann gedeutet werden als Beispiel dafür, dass die DDR in der Popkultur allmählich auch jenseits einer einseitigen Fokussierung auf den Unrechtsstaat thematisiert werden kann. Dabei steht die
deutsche Einheit, und damit indirekt auch ihre konkrete Ausgestaltung, als historischer Glücksfall außer Frage. Das sich darin ausdrückende Geschichtsverständnis ist zu diesem Zeitpunkt durchaus
staatstragend – wie sich in der Live-Aufführung des Liedes beim Staatsakt zum Tag der deutschen Einheit 2005 zeigt.
Dass durchaus ein Wille zum Zusammenwachsen besteht, zeigt ein anderes ost-westdeutsches Duo 2011: Ute Freudenberg und Christian Lais besingen in „Auf den Dächern
von Berlin“ [9] sehr unterschiedliche Erfahrungswelten in der DDR und BRD, betonen aber vor allem das Gemeinsame eines jugendlichen Lebensgefühls und der „Freiheit der Gedanken“ dies- wie
jenseits der Mauer. In der Aneinanderreihung von vordergründig unpolitischen Klischees über das Leben in Ost und West sowie dem unbedingten Willen zur, wohl dem Genre des Schlagers geschuldeten,
guten Stimmung, wird auf bemerkenswerte Art gegenseitige Bezugnahme deutlich. Dass östliche und westliche Nostalgie gleichberechtigt nebeneinanderstehen können, lässt sich zwei Jahrzehnte nach
der Wiedervereinigung durchaus als eine Normalisierung im Reden bzw. Singen über die ‚Deutsche Einheit’ verstehen.
Mit den Erfolgs- und Fortschrittsgeschichten ist jedoch seit den 2010er Jahren
zunehmend Schluss. Vorreiter war hier die Chemnitzer Gruppe Kraftklub, speziell mit ihrem Lied „Karl-Marx-Stadt“ [10] von 2012. Der Text behandelt, ausgeprägt hedonistisch, Klischees vom Leben
und sozialen Problemlagen in der abgehängten ostdeutschen Provinz, überspitzt sie ironisch, leugnet sie aber nicht. Dabei bleibt kein Zweifel, dass man sich mit der DDR-Herkunft und ostdeutscher
Gegenwart auch als Nachgeborener durchaus selbstbewusst beschäftigen, vielleicht teilweise auch identifizieren kann. Kraftklub waren dabei wohl die ersten von Spät- und Nachgeboren ostdeutschen
Musiker (ganz überwiegend Männern), die die DDR gar nicht mehr oder kaum noch bewusst erlebt haben und nun einen neuen Ton in die musikalische Auseinandersetzung mit dem Erbe von 89/90 bringen.
Die Einstellungen, musikalischen Stile und thematischen Bezüge unterscheiden sich dabei ganz erheblich. Letztere reichen von einem starken Lokal- oder Regionalfokus über das Leben und Überleben
in der Provinz bis hin zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Umbruchs- und Nachwendezeit. Was diese Generation von Musikern verbindet, ist das subtile Mitschwingen bis explizite Beschreiben
von spezifisch ostdeutschen Erfahrungsräumen – beispielsweise in dem Werk von Marteria („Mein Rostock“ [11], 2014), Pisse („Scheiß DDR“ [12], 2015) oder dem ost-westdeutschen Duo Zugezogen
Maskulin („Uwe & Heiko“ [13], 2017). Weitere gemeinsame Merkmale sind, dass diese Gruppen nie monothematisch zu „ostdeutscher Herkunft“ arbeiten, es sich vielmehr um ein Thema, oft auch nur
einzelne Stücke, unter vielen handelt und diese Gruppen, in ihren jeweiligen Sparten, ebenso in Westdeutschland erfolgreich sind. Es lässt sich hier also ein Bewusstsein für DDR- und ostdeutsche
Bezüge erkennen, wobei zu bezweifeln ist, ob sich diese Gruppen und ihre Fans überhaupt oder ausschließlich als ‚ostdeutsch’ identifizieren.
Aufschlussreich in Bezug auf den Trend einer Pluralisierung der Erzählungen zu 89/90 und der Nachwendezeit ist das Werk des Musikers Romano, speziell sein Lied
„König der Hunde“ [14] von 2017. Er beschreibt darin, man darf annehmen autobiografisch inspiriert, das jugendliche Erleben der unmittelbaren Nachwendezeit in (Ost-)Berlin. Zum Ausdruck kommt
eine ambivalente Gemengelage: Entkommen aus Enge und Eingrenzung, Entfaltungsmöglichkeiten in Konsum und Freizeitgestaltung nach 1989, aber auch Anpassungsdruck, Überforderung und
Orientierungslosigkeit, der Wegfall von gewohnten Institutionen und Ansprechpartnern, nicht zuletzt rechte Gewalt. Bemerkenswert ist, dass im Musikvideo die ikonischen, inzwischen zum Klischee
erstarrten Bilder des Mauerfalls zwar wieder aufgegriffen werden, aber lediglich als Vorspiel zum eigentlichen Werk erscheinen. Der Mauerfall wird also im wahrsten Sinne des Wortes vom Ende der
zum Anfang einer von vielen Geschichten.
Romano reiht sich ein in einen gesamtgesellschaftlichen Trend zur kritischen Pluralisierung und Differenzierung in der Deutung von ‚89/90’ jenseits der Einengung des
Blicks, der mit dem Verständnis der ‚Friedlichen Revolution’ einhergeht. Durchaus typisch dabei ist, wie z.B. bei „König der Hunde“, eine Relativierung des Fokus auf den Herbst 1989 zu Gunsten
einer Einbettung der Ereignisse in eine ‚lange Geschichte der Wende’. Damit einher geht eine Vervielfältigung der musikalischen Akteure und Perspektiven: Die Hamburger Gruppe Kettcar erinnert vor
dem Hintergrund der Migrationsbewegungen nach Europa ab 2015 an die Legitimität von Fluchthilfe aus der DDR 1989 („Sommer 89“ [15], 2017). Die ebenfalls aus Hamburg stammenden Goldenen Zitronen
historisieren mit „Das war unsere BRD“ [16] von 2019 die ‚alte’ Bundesrepublik, was zugleich als Abgesang auf die DDR als historische Ausnahme interpretiert werden kann. Die Gruppe City meldet
sich mit einer aktualisierten Bestandsaufnahme des Lebens in der DDR zurück („Mein Land“ [17], 2019), während die Dresdner East German Beauties mit recht zupackender Ironie unkritische
Rückbesinnungen auseinandernehmen. („Ostalgie“ [18], 2019).
Diese Vielschichtigkeit der Perspektiven ist nicht neu, doch sie erfährt eine neue Hör- und Sichtbarkeit auch in der populären Musik. Ob Musik auch weiter als
Impulsgeber für kritische Perspektiven auf ost-, west- und gesamtdeutsche Erfahrungsräume dienen kann, ohne in rechtsoffene Identitätspolitik zu verfallen, bleibt abzuwarten. Zu wünschen wäre
es.
Die Playlist zum Beitrag auf Spotify und Youtube
1. Scorpions, Wind of Change (1989)
2. Nina Hagen, Erfurt & Gera (1991)
3. Feeling B, Ich such die DDR (1991)
4. Müllstation, Alte Schweine – Neue Welt (1993)
5. Gundermann und die Seilschaft, Hier bin ich geboren (1995)
6. Die Ärzte, Hurra (1995)
7. Bernd Begemann, Kein Glück im Osten (1996)
8. Paul van Dyk / Peter Heppner, Wir sind Wir (2004)
9. Ute Freudenberg / Christian Lais, Auf den Dächern von Berlin (2011)
10. Kraftklub, Karl-Marx-Stadt (2012)
11. Marteria, Mein Rostock (2014)
12. Pisse, Scheiß DDR (2015)
13. Zugezogen Maskulin, Uwe & Heiko (2017)
14. Romano, König der Hunde (2017)
15. Kettcar, Sommer 89. Er schnitt Löcher in den Zaun (2017)
16. Die Goldenen Zitronen, Das war unsere BRD (2019)
17. City, Mein Land (2019)
18. East German Beauties, Ostalgie (2019)