Von Müttern, Russischlehrerinnen und Oppositionellen
- Die Darstellung von Frauen in Graphic Novels zu 1989
von Rita Krebs, Freiburg/Br.
Häusliche Fürsorge, parteiliche Folgsamkeit oder politische Rebellion: Der Titel verweist bereits auf die Bandbreite an Handlungsoptionen und Rollenmuster, die Frauen bzw. Mädchen in den hier untersuchten Graphic Novels Kinderland von Markus „Mawil“ Witzel und Herbst der Entscheidung von Bernd Lindner und PM Hoffmann einnehmen. Beide Bücher sind zum 25. Jubiläum des Mauerfalls 2014 erschienen und geben beispielhaft einen Einblick, wie in der DDR lebende Frauen popkulturell repräsentiert werden. Beide Graphic Novels erzählen vor dem Hintergrund der biografischen Erfahrung der Autoren von den politischen Ereignissen des Jahres 1989. Biografisches in grafischer Form zu be- und verarbeiten birgt erzählerische Potenziale: So eröffnet die visuelle Gestaltung eine spezifisch eigene Ebene der narrativen Interpretation der persönlichen Erfahrung des/der Autor:in wie auch des historischen Kontextes. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Frauenrollen nun also erinnerungspolitisch durch die beiden Graphic Novel akzentuiert werden – und welche ausgespart bleiben.
Kinderland
Die Graphic Novel Kinderland von Mawil erzählt das Leben des Siebtklässlers Mirko Watzke im Sommer 1989, ein Junge an der Schwelle zum Teenagerwerden. Zunächst jedoch ist Mirko vor allem vorbildlicher Schüler – bis er den neuen, unangepassten Schüler Torsten aus der Parallelklasse trifft. Die ungleichen Jungs entwickeln schnell eine gemeinsame Begeisterung fürs Tischtennis spielen. Schauplatz der Geschichte ist Ost-Berlin. Dennoch spielen sich die (welt-)politischen Ereignisse des Sommers 1989 lange nur im Hintergrund ab. Die Geschichte akzentuiert vielmehr Alltag und Jugend in der DDR. Themen wie Freundschaft, Mut, Zusammenhalt stehen im Vordergrund.
Frauenrollen – Nebenrollen?
Mawil, selbst 1976 in Ost-Berlin geboren, zeichnet in Kinderland ein buntes Bild der Stadt: Von Anfang an besticht das Buch mit farbenfroh gestalteten Szenerien und Detailreichtum. Das
geschäftige Treiben auf der Straße zeigt alte Männer und junge Frauen, fußballspielende Mädchen und neugierige Jungen.
Der Blick fürs Detail ist Mawil auch bei der zeichnerischen Ausgestaltung seiner Figuren wichtig, nicht nur der Hauptfiguren. Schaut man auf die dargestellten Frauen und Mädchen, so gleicht keine
der anderen. Haarfarbe, Frisur, Mimik und Gestik ist bei jeder Figur anders. Mawil zeichnet das ganze Panorama von Frauenfiguren in der DDR: junge, punkige Mütter ebenso wie mittelalte Frauen,
die noch bei ihren Eltern leben.
Der Schulhof zur Pausenzeit spiegelt das geschäftige Treiben auf der Straße; auch hier werden Mädchen- und Jungenfiguren ganz individuell und mit Liebe fürs Detail gezeichnet. Damit verzichtet Mawil auf stereotype Figuren im Erzählen über die DDR ebenso wie er Nebenfiguren nicht als ‚flache’ Charaktere oder bloße Kulisse zeichnet.
Schule und Lehrerinnen
Mit der Lehrerin Frau Kranz führt Mawil in die Geschichte eine scheinbar eindeutige Figur ein, den Typus der strengen und systemtreuen Russischlehrerin.
Mit wachsamem, beinahe bösem Blick schaut sie auf den verspäteten, eine Entschuldigung stammelnden Mirko. Durch die Gestaltung der Szene nimmt der Leser und die Leserin die Perspektive des Jungen
ein, der von unten nach oben schauend dem strengen Blick der Lehrerin ausgesetzt ist. Besonders nachdrücklich betont folgende Szene die scheinbar ungebrochene Staats- und Parteitreue der Figur:
Nachdem es bei dem entscheidenden Tischtennisturnier zwischen Torsten und Mirko auf der einen Seite und zwei FDJlern auf der anderen zu Handgreiflichkeiten kommt, reißt das FDJ-Hemd von einem der
Gegner. Bei diesem Anblick platzt Frau Kranz fast vor Wut. Ihr Gesicht färbt sich rot, die Augen treten hervor und ihre Zähne wirken wie Reißzähne. Vor Wut zitternd brüllt sie Torsten an:
„MASLOWSKI! Du vergreifst dich als Nichtpionier an Symbolen unserer sozialistischen Gesellschaft!“
Doch im Laufe der Geschichte offenbaren sich Brüche innerhalb der vermeintlich konsistenten Charakterzeichnung. Erste Risse zeigen sich in der Szene, in der Mirkos Klassenkameradin Lydia um ihre
Freundin weint, die – es ist Sommer 1989 – aus den Ferien nicht zurückgekommen ist. Frau Kranz kommentiert dies zunächst forsch und wenig einfühlsam:
„Jaaa… das is bitter, wenn man von seiner besten Freundin so enttäuscht wird… […] Peggy und ihren Eltern hat es in unserem Land an nichts gefehlt… Wenn jemand dann so leicht den billigen Verlockungen des Westens erliegt, dann… braucht man ihm auch keine Träne nachweinen“.
Auf der Bildebene jedoch wird die Diskrepanz zwischen den Worten und der Innenwelt der Lehrerin deutlich sichtbar. Während sie spricht, entfernt sie sich physisch wie psychisch von der Klasse. Sie scheint zunehmend nicht mehr zu Lydia, sondern zu sich selbst zu sprechen. Es scheint, als wäre ihr selbst eine ähnliche Situation passiert. Die sonst so detailliert und farbenreich gestalteten Panels werden in dieser Szene gräulich bzw. bläulich eingefärbt. Den letzten Satzteil spricht Frau Kranz zum Fenster gewandt. Sie hat sich von der Klasse entfernt. Ihre Aussagen scheinen nicht die konkrete Situation zu betreffen, sondern auf die Vergangenheit bezogen und grundsätzlicher zu sein: ein desillusionierter Kommentar zur wachsenden Zahl von Ausreisenden seit den 1980er Jahren, die in der Fluchtbewegung über Ungarn ihren Höhepunkt fand.
Durch die veränderte Perspektive wird der Lesende (nicht die Klasse) Zeuge dieses Konflikts, der sich in der Lehrerin abspielt. Man folgt ihrem resignierten Blick nach draußen: Erstmalig sind die
Straßen vor der Schule leer. Die Szenerie wirkt ausgestorben. Das Bild ist nun, wie zuvor die Darstellung der Lehrerin, grau. Ein rauer Herbstwind weht, symbolisiert durch herabfallende Blätter,
die über die Panelgrenzen hinweg ziehen. Die ganze Szenerie symbolisiert Schwere, Tristesse und das Ende einer Epoche.
Das nächste Panel zeigt Frau Kranz wieder im warmen Licht des Klassenraums. Sie reibt sich die Augen, wie um alte Gefühle und diese Art der Wahrnehmung abzuschütteln. Dass in ihr eine Erinnerung
bzw. eine verdrängte Gefühlswelt aufgestiegen sein muss, wird durch das vierte Panel der Seite bestätigt. Der Klasse immer noch leicht abgewandt, wischt sie sich verstohlen eine Träne aus dem
Auge. Als sie sich erneut der Planung des Programms für den Pioniergeburtstag zuwendet, wirkt sie wie ausgewechselt. Sie lächelt zum ersten Mal im gesamten Comic und klatscht voller Tatendrang in
die Hände. Auch wenn diese Hochstimmung nicht lange anhält. Bald ist sie wieder in ihrer Rolle als strenge, unnahbare Lehrerin.
Brüche in der Figur manifestieren sich noch an einer anderen Stelle im Comic, in der Frau Kranz, nachdem Mirko und Torsten beim Altstoffsammeln bei ihr geklingelt haben, noch schnell den
„Spiegel“ versteckt und den Fernseher – es läuft ARD– ausschaltet. Im Fernsehen zu sehen sind die symbolträchtigen Bilder aus Prag, als DDR-Bürger:innen in einer Mischung aus Panik und Euphorie
über den Zaun in die bundesrepublikanische Botschaft kletterten. Der Leser und die Leserin wissen diese Bilder zu deuten als Teil einer Entwicklung, die im Ende der DDR mündete.
Und diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Figur von Frau Kranz. Im Sommer meldet sie sich krank und kommt nicht mehr zur Schule. Ein letztes Panel mit ihrer Person zeigt sie im Herbst.
Sie versteckt sich, eingewickelt in ein Halstuch und mit tiefen Augenringen hinter ihrer Gardine. Die Szene bleibt unkommentiert, doch sie spricht Bände: das System neigt sich seinem Ende und
sie, Frau Kranz, ist nicht mehr Mitspielerin, sondern nur noch Zuschauerin.
In der Figur der Frau Kranz präsentiert Mawil den Typ der regimetreuen (Russisch)Lehrerin (der auch in anderen populären Darstellungen zur DDR zu finden ist), um diese Figurenzeichnung in einem
zweiten Schritt aufzubrechen. Dies ist weniger als Kommentar zur lebensweltlichen Erfahrungswelt von Schüler:innen in der DDR und dem hochpolitisierten Macht-Raum Schule zu verstehen. Vielmehr
kann die Zeichnung der Figur als eine Verweigerung zur scheinbaren Eineindeutigkeit verstanden werden, mit der Frauen als Lehrerinnen in der DDR immer wieder gezeichnet werden. Ein Beispiel dafür
ist der Film „Fritzi. Eine Wendewundergeschichte“ von 2019, in dem die Schüler:innen konfrontiert sind mit einer ganz bruchlos erzählten, in grau gekleideten, verkniffenen, alte
Staatsbürgerkundelehrerin.
Familienkonzepte und Rollenbilder
In Kinderland werden zwei Familienmodelle thematisiert. Zum einen die Familie von Mirko, eine klassische Mutter-Vater-zwei Kinder-Kernfamilie, die auch die Mehrheit der in der DDR lebenden
Familien ausmachte. Auf der anderen Seite steht Torstens Familie: alleinerziehende Mutter mit Sohn – die sog. „Elternteil-Familien“ machten in der DDR Anfang der 1980er Jahre ca. 18% der Familien
aus (vgl. Drauschke 1992).
Als Mirko das erste Mal seinen Freund Torsten besucht, trifft er auf dessen Mutter Rita Maslowski. Zunächst hält er sie für die Schwester, denn Rita widerspricht nicht nur durch Alter und
Aussehen Mirkos Vorstellung von Mutter-Sein. Rita hat zudem einen Freund (Dieter), der nicht Torstens Vater ist; sie sind nicht verheiratet. Nicht zuletzt steht Torstens Mutter kritisch zur DDR.
Mawil zeichnet hier das Bild einer selbstbewussten und selbständigen Frau. Anders Mirkos Mutter: Während sich Mirkos Vater abschätzig über Frau Kranz und den „Sozialismus da unten“ (gemeint ist
die Situation in China nach dem Massaker auf dem Tian´anmen-Platz) äußert, will seine Mutter – zumindest nicht vor dem Sohn – ihre politische Meinung sagen.
Auch in anderen familiären Räumen repräsentiert sie eher traditionelle Rollenvorstellungen und wird in untergeordneter Rolle dargestellt. Während Mirkos Vater nach der Arbeit nach Hause kommt,
macht Mutter Marlies im Hintergrund den Abwasch. Sie ist für das Anrichten des Abendbrots und das Füttern der kleinen Schwester zuständig. Nebenbei reicht sie ihrem Mann ein Bier. Ob sie selbst
arbeiten geht, bleibt offen, ist jedoch wahrscheinlich (der Anteil arbeitstätiger Frauen lag in der DDR der 1980er Jahre bei 92 Prozent). Die Szene verweist auf klassische Rollenbilder gerade
auch in der DDR, in der die Frauen nach wie vor für Küche und Kindererziehung zuständig waren und sich Väter als Oberhaupt der Familie generierten (etwa auch wenn Mirkos Vater das besorgte
Gespräch zwischen Mutter und Sohn forsch abschneidet: „Du hast ihn doch gehört: Er geht mit ‘m Freund!“).
In Kinderland sind Mädchen und Frauen also in unterschiedlichen Rollen repräsentiert, als Klassenkameradinnen, Lehrerinnen und Mütter. Sie sind – obgleich Nebenrollen im Plot – aktiv in die
Handlung eingebunden. Im Buch finden so auch Auseinandersetzungen mit Frauen und weiblichen Rollenmodellen in der DDR statt. Im Feld Familie setzt Mawil zwei Konzepte gegenüber und bildet damit
lebensweltliche Realitäten von Frauen in der DDR ab, die zum einen von Emanzipationserfahrungen, zum anderen von klassischen Rollenanforderungen und paternalistischen Strukturen geprägt war. Im
Feld Schule etabliert Mawil und hinterfragt zugleich mit Frau Kranz den Typ der regimetreuen Lehrer:in in der DDR.
Herbst der Entscheidung
Der Titel der Graphic Novel verweist im Grunde auf zwei miteinander verwobene Geschichten. So steht zunächst der Leipziger Abiturient Daniel Krüger zu Beginn der Handlung vor einer wichtigen
Entscheidung: studieren oder nicht. Um studieren zu können, muss er sich für drei Jahre zum Armeedienst verpflichten. Die Entscheidungsfrage bringt die Figur Daniel in einen Gewissenskonflikt
zwischen seiner pazifistischen Einstellung und der staatstreuen Gesinnung seines Vaters, der den Armeedienst befürwortet. Als Daniel Kontakte zu Vertretern der Bürgerrechtsbewegung knüpft,
eröffnet sich für ihn ein dritter Weg: Er wird Teil der Oppositionsbewegung und engagiert sich für eine demokratisch erneuerte DDR.
Was in der Graphic Novel als biographischer Weg erzählt wird, ist eingebunden in die politisch-gesellschaftlichen Umbruchsprozesse im Herbst 1989. „Herbst der Entscheidung“ zielt so auch auf die
Frage nach der politischen Zukunft des Landes. Aus einer Innenperspektive der Bürgerrechtsbewegung in Leipzig erzählt, rückt das Buch dabei nicht den Mauerfall und die Prozesse in den
Vordergrund, die zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 führten. Vielmehr machen Lindner und PM Hoffmann die Erwartungen und Zukunftsvorstellungen der damaligen
Bürgerrechtler:innen, also die Vision eines besseren Landes, eines demokratischen Sozialismus, zum Gegenstand des Buches. In einem dokumentarischen Stil, zu großen Teilen in schwarz-weiß
gehalten, setzt die Graphic Novel ganz anders als Mawil in Kinderland auf Authentizität. Diese soll hier vor allem dadurch erzeugt werden, dass die Geschichte an realen Orten spielt und ein Teil
der Personage an realen Personen der Zeit orientiert ist.
Frauenrollen – Nebenrollen?
„Doch rührt sich auch Widerspruch. […] In kleinen Gruppen haben junge Männer und Frauen [Hervorheb. RK] unter dem schützenden Dach evangelischer Kirchen begonnen, die Missstände im Land
anzuprangern. Sie wollen hierbleiben und die DDR reformieren.“
Bereits der erste Blocktext etabliert den Anspruch der Gleichrangigkeit der Geschlechter bei der Bemühung um Reformen in der DDR. Diese Selbstverständlichkeit setzt sich fort, als Daniel das erste Mal auf Teile der Leipziger Bürgerrechtsbewegung trifft.Diese Selbstverständlichkeit setzt sich fort, als Daniel das erste Mal auf Teile der Leipziger Bürgerrechtsbewegung trifft.
Dort lernt er neben Uwe auch Katrin, Gesine und Chris kennen. Tatsächlich spielten Frauen in der Oppositionsbewegung eine tragende Rolle. Erinnerungskulturell stehen sie jedoch häufig, von
einigen prominenten Figuren wie der Malerin und Mitgründerin des „Neuen Forums“ Bärbel Bohley abgesehen, am Rand. Nicht so in diesem Buch. Frauen erscheinen hier als inhärenter Teil der
Oppositionsbewegung, auf den Montagsdemonstrationen ebenso wie in den Diskussionen innerhalb der Gruppe.
Daniel verliebt sich in Katrin, Mitte 20, die ihr Theologiestudium abbrechen musste und sich seitdem kritisch engagiert. Katrin ist die Figur im Buch, die Daniel und damit den Leser und die
Leserin Hintergrundwissen liefert. Von ihr erfährt Daniel von politisch Verfolgten, von der Entstehung des „Neuen Forum“. Es muss etwas geschehen, „sonst blutet das Land aus!“, sagt Katrin, und
ihre Entschlossenheit imponiert Daniel nicht nur, sondern hilft ihm, seine eigene Entscheidung zu treffen. Auf ihre Frage, „Also was ist, machst du mit? Oder willst du dir weiter vorschreiben
lassen, wie dein Leben zu verlaufen hat?“, entscheidet sich Daniel gegen das Studium und damit gegen seinen Vater und schließt sich der Oppositionsbewegung an.
Die Darstellung von Katrins Entschlossenheit zieht sich durch das gesamte Buch. Als Daniel überfordert ist, macht sie ihm Mut. Und als er sie an einer Stelle bittet, „lass uns auch Feierabend machen. Wir hatten in den letzten Tagen kaum Zeit füreinander!“, entgegnet sie: „Das neue Infoblatt ist noch nicht abgezogen. Wir haben versprochen, dass es morgen verteilt werden kann!“ Trotz ihrer offensichtlichen Zuneigung zu ihm verliert sie das politische Anliegen nie aus den Augen. Sie wird gezeichnet als vorantreibende Kraft, als Problemlöserin in der Gruppe, als Ansprechpartnerin für Daniels Zweifel und Fragen. Im Comic verdeutlicht diese Haltung auch ihre Körpersprache, ihr Oberkörper ist häufig außerhalb des Panels weitergezeichnet. Häufig ist sie dem Lesenden direkt zugewandt, und ihr in die Zukunft gewandter Blick verdeutlicht die Vision als Mission auch auf bildsprachlicher Ebene. Die Figur Katrin ist eine Heldin, eine Kämpferin, vielleicht auch Anführerin. Die Figur erscheint ab und zu etwas holzschnittartig und eindimensional, das Gesprochene wie aus einem Lehrbuch für Demokratie. Gleichwohl: In einem erinnerungskulturellen Kontext, in dem die Rolle der Frauen in der Oppositionsbewegung selten eine Rolle spielt, ist die Figur ein wichtiges statement.
Familienkonzepte und Rollenbilder
In der Darstellung von Daniels Familie zeichnen sich zwei Konfliktlinien ab: die zwischen ihm und seinem Vater sowie die zwischen den Eltern. Die Konflikte überlagern sich in der Szene, in der
die Eltern in der Tagesschau Bilder von Demonstranten auf der Montagsdemonstration am 4. September in Leipzig sehen, unter ihnen ihr Sohn. Daraufhin entbrennt ein Streit. Die Mutter versucht zu
beschwichtigen: „[v]ielleicht war er es gar nicht? Das ging doch so schnell! Das war sicher nur einer, der Daniel ähnlich sieht!“ Doch der Vater ist wütend und ruft verärgert aus, dass der Sohn
seinen Ruf beschädige (der Vater ist Dozent für politische Ökonomie des Sozialismus an der Karl-Marx-Universität). Neben dem konkreten Konflikt zeigen sich hier bereits unterschiedlicher
Bewertungen der SED-Politik. Während der Vater Daniel bezichtigt, „gemeinsame Sache mit d[en] Staatsfeinden“ zu machen, hinterfragt die Mutter vorsichtig den repressiven Umgang der Polizei mit
den Demonstrierenden: „Hoffentlich ist dem Jungen nichts passiert? Wie die dazwischengegangen sind!“
Am 7. Oktober 1989, es ist der 40. Jahrestag der DDR, befindet sich Daniel erneut in der Leipziger Innenstadt. Die Volkspolizei greift hart durch, „unerlaubte Ansammlungen“ werden aufgelöst. In
der Masse der Fliehenden entdeckt Daniel plötzlich seine Mutter. Gemeinsam werden sie Zeugen, wie die mit Knüppeln und in voller Schutzmontur bekleideten Volkspolizisten brutal gegen Männer und
Frauen vorgehen. Die Szene nimmt als Bild beinahe die gesamte Seite ein. Die ausufernde Gewalt wird symbolisiert und unterstrichen durch die fehlenden Panel-Grenzen und eine am Boden
liegende, hochschwangere Frau im Vordergrund des Bildes.
Der Einsatz von Gewalt gegen die großteils friedlich Demonstrierenden öffnet der Figur der Mutter die Augen. Sie solidarisiert sich mit Daniel als sie sagt „Jetzt verstehe ich dich!“. So kommt es, dass am Abend des 9. Oktober 1989 Daniels Mutter noch vor ihm als Teil der 70.000 Menschen auf dem Leipziger Ring demonstriert. Im Bild hat sie nun entschlossen die Faust geballt.
Auch gegenüber ihrem Mann vertritt sie nun ihre eigene politische Meinung. Die Figur der Mutter repräsentiert so einen Prozess der doppelten Emanzipation: in der Beziehung zu ihrem Mann (der als
Figur auch den Staat symbolisiert) sowie in ihrer Mündigwerdung als politisch Handelnde.
In der Graphic Novel Herbst der Entscheidung begegnen uns Frauen zum einen als aktiver und treibender Teil der Bürgerrechtsbewegung. Zum anderen wird über die Figur der Mutter der Prozess von
Politisierung und Emanzipation erzählt, wobei die Geschlechterrollen in der Ehe zugleich das Verhältnis von Staat und Bevölkerung symbolisieren, das als ein Akt der Selbstbefreiung in dem Ruf
„Wir sind das Volk“ mündet.
Frauen in der DDR
In der Analyse von Kinderland und Herbst der Entscheidung lassen sich unterschiedliche Rollen ausmachen, die Frauen bzw. Mädchen innerhalb der Werke einnehmen. In beiden Büchern treten sie
keineswegs nur als stumme Nebencharaktere auf, sondern als tonangebende Klassenkameradinnen, als staatstreue Lehrerinnen, als Akteurinnen in der politischen Opposition sowie in unterschiedlicher
Ausgestaltung als Mutter. Wie stimmen diese Repräsentationsformen mit der Situation der Frauen in der späten DDR überein?
Mythos Gleichberechtigung?
1949 wurden durch die erste Verfassung der DDR Frauen dieselben Rechte wie Männern zugesprochen. Eine wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen sollte durch das Prinzip „gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ erreicht werden. Ab den 1980er Jahren waren für fast alle Kinder ab zwei Jahren Betreuungsplätze eingerichtet worden, sodass die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie garantiert
werden konnte. Durch diese und eine Vielzahl anderer sozialpolitischer und Qualifizierungsmaßnahmen, die speziell Frauen adressierten, waren 1989 92 Prozent der Frauen berufstätig. Dies machte
die DDR auch im internationalen Vergleich zu einem Land mit der höchsten Frauenerwerbsquote (vgl. Kaminsky 2016), dabei war die Integration beider Geschlechter in die Erwerbsarbeit in der DDR
politisch gewollt und intendiert (vgl. auch Scholz).
Dieser realhistorische Bezug spiegelt sich in Herbst der Entscheidung, wo die Mutter Konflikte einer zunehmenden Politisierung auch im Arbeitsumfeld austrägt. In Kinderland hingegen bleibt zwar
unklar, ob die Mutter arbeiten geht. Thematisiert werden hier jedoch die patriarchischen Strukturen, die eine klare und klassische Rollenaufteilung innerhalb der Familien bedeutete, was für
arbeitende Frauen ein hohes Maß an Mehrfachbelastung bedeutete.
Frauen in der politischen Opposition
„Nach Appetithappen: Begrüßungsgeld, BRD-Wirtschaftshilfe, […] kommt KOHL-Suppe: Frauen an den Herd: nur 54% der BRD-Frauen sind berufstätig…“ (Kahlau 1990). Mit dieser Warnung rief der
Unabhängige Frauenverband (UVF) am 17. Dezember 1989 zur Demonstration auf. Der kurz zuvor aus neuen und alten Frauengruppen in der DDR gegründete Verband forderte wie andere Teile der sich
ausdifferenzierenden Oppositionsbewegung die Eigenständigkeit der DDR – allerdings unter spezifisch frauenpolitischen Maßgaben (Ein Wahlspot des UFV findet sich hier). Programmatisch fordert der UFV
mit seiner Schrift „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“ die umfassende Gleichstellung der Geschlechter mit voller Teilhabe an der Macht in Staat und Gesellschaft (vgl. Merkel und Schäfer
1989).
Trotz ihrer Bedeutung in der Umbruchszeit ist die Rolle von Frauen in der DDR-Opposition und im Herbst 1989 erinnerungskulturell weitgehend marginalisiert
(vgl. Bock 2020). In Herbst der Entscheidung wird diese erinnerungskulturelle Leerstelle aufgegriffen, indem mit Katrin als fiktiver Figur sowie mit Frauenfiguren, die an realen Personen
orientiert sind, Frauen als integraler Teil der Opposition sichtbar werden. Eine von ihnen ist Gesine Oltmann, die sich seit Anfang der 1980er Jahre, bereits als Jugendliche, in oppositionellen
Menschenrechtsgruppen engagierte. Auf der Montagsdemonstration am 4. September 1989 entfaltete sie gemeinsam mit Katrin Hattenhauer das Transparent „Für ein freies Land mit freien Menschen“, das
kurz darauf von Mitarbeitern der Stasi runtergerissen wurde. Die Bilder (aufgezeichnet durch ein westdeutsches Fernsehteam) gingen um die Welt und gelten als ein Symbol des Aufbruchs in der DDR.
Und sie finden sich auch in Herbst der Entscheidung.
In einem geschlechterspezifischen Kontext wurden die Bilder und Ereignisse bislang kaum rezipiert. Was auch Herbst der Entscheidung nicht leistet, ist eine Thematisierung der feministischen und frauenpolitischen Positionen von 1989/90, also des UVF, seine Vertreter:innen und andere Akteur:innen, ihre Wünsche und Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung, aber auch Herausforderungen.
Fazit
In beiden Graphic Novels finden sich mehrschichtige Figurenzeichnungen von Frauen. Fragen von Berufstätigkeit, Geschlechterrollen sowie die Beteiligung in der Oppositionsbewegung wurden in den
Büchern in Bezug auf die Repräsentation von Frauen in der DDR und Wendezeit verhandelt. In beiden Büchern begegnen uns Frauen als Akteurinnen, sind sie wichtige Figuren und zeigen eine
Charakterentwicklung.
Zugleich werden andere Lebens- und Handlungsräume von Frauen (z.B. von Lesben oder die Gruppe der Vertragsarbeiterinnen) gar nicht thematisiert. Anders die Graphic Novel von Birgit Weyhe, die mit
Madgermanes einen Anfang gemacht hat und im Erzählen der komplexen Geschichte der Vertragsarbeiter in der DDR auch die Rolle von Frauen reflektiert. Die skizzierten Leerstellen im Bereich
historischer Comics und Graphic Novels decken sich mit einer Tendenz in der öffentlichen Erinnerungskultur. In dieser spielen auch 30 Jahre nach 1989 die „starke(n) Ost-Frauen von einst“ (Müller
2019) kaum eine Rolle. Eine Graphic Novel über die politisch aktiven Frauen in der DDR und während der Wendezeit in ihren vielen Doppelrollen als Mütter, Freundinnen, Arbeitende, Zweifelnde und
manchmal auch Verzweifelnde steht noch aus. Ein solches Buch könnte nach dem Wahlslogan des UVF zur Volkskammerwahl im März 1990 heißen: „Mit Gefühl und Verstand. Neue Frauen braucht das Land“.
Zeit wär’s.
Verwendete Literatur
Bock, Jessica: Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980–2000, Halle 2020.
Drauschke, Petra: Einige Gedanken zur Familienpolitik in der 40jährigen Geschichte der DDR, in: Unterm neuen Kleider Freiheit das Korsett der Einheit. Auswirkungen der deutschen Vereinigung für
Frauen in Ost und West, hrsg. v. Christel Faber und Traute Meyer, S. 41-46.
Kahlau, Cordula (Hrsg.): Aufbruch! Frauenbewegung in der DDR: Dokumentation, München 1990.
Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR, Berlin 2016.
Merkel, Ina und Schäfer, Eva (Hrsg.): Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Hamburg 1990.
Müller, Dana: Wir waren schon weiter, in: L-MAG: 30 Jahre Mauerfall – Lesben in der DDR. Über Leben und Widerstand im Osten, Ausgabe: September/Oktober 2019, Berlin 2019, S. 40-42.
Scholz, Sylka: Erfolgreiche Ostfrauen und nach rechts driftenden Ostmänner. Was ist los im ostdeutschen Geschlechterverhältnis?, in: Umbruchserfahrungen. Geschichten des deutschen Wandels von
1990 bis 2020, hrsg. v. Michael Hofmann, Münster 2020, S. 71-90.